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Afrikas unerkannte Corona-Infektionen

26. Oktober 2021

Vierzig Prozent der Menschheit soll nach Willen der WHO in jedem Land der Welt bis zum Jahresende geimpft sein. Dabei hat das Virus unbemerkt die Impfteams in einigen Ländern, wie Äthiopien, schon längst überholt.

Start der COVID-19-Impfung in einem Zelt in Addis Abeba im März 2021. Ein Mann erhält eine Impfung in den Oberarm.
Im März begannen in Addis Abeba Corona-Impfungen. Doch bis jetzt sind keine drei Prozent so immunisiert worden.Bild: Solomon Muchie/DW

Der Chef der Weltgesundheitsorganisation Tedros Adhanom Ghebreyesus forderte die Industriestaaten der Welt bei der Eröffnung des World Health Summit in Berlin  am Sonntag auf, ihre Versprechen gegenüber dem UN-Impfprogramm COVAX  zu erfüllen. Nur dann könne die WHO ihr Ziel noch erreichen, dass in jeden Land der Welt bis zum Jahresende mindestens 40 Prozent aller Menschen gegen COVID-19 geimpft werden.

Weltweit wurden bislang etwa 6,9 Milliarden Impfdosen verabreicht. (Alle Angaben in diesem Artikel sind Stand 26.10.2021)  Damit ist fast die Hälfte der Weltbevölkerung mindestens einmal geimpft.  Die meisten Geimpften wurden allerdings schon mit zwei Dosen grundimmunisiert.

Afrika bleibt das Schlusslicht bei den Impfungen

Dabei sind die Impfdosen weltweit sehr ungleich verteilt: Vor allem in den Industrie- und in einigen Schwellenländern sind die Impfquoten hoch. In Australien sind 73 Prozent der Menschen mindestens einmal gegen COVID-19 geimpft. Auf dem  europäischen Kontinent sind es 59 Prozent, aber in der Europäischen Union bereits 69 Prozent. In Nordamerika sind es 60 Prozent, aber in den USA 66 Prozent - der gleiche Wert wie in Südamerika. Asien liegt nur etwas niedriger bei 56 Prozent. 

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Allerdings gibt es in Asien auch einige Länder, die nur sehr geringe Impfquoten erreichen, wie etwa Bangladesch mit lediglich 24 Prozent. Das eigentliche Schlusslicht bildet indes der Kontinent Afrika, wo erst 8,4 Prozent eine Impfung erhalten haben. Die höchsten Werte erreichen hier Staaten wie Marokko mit 63 Prozent und Tunesien mit 46 Prozent. Südlich der Sahara hat Südafrika die höchste Impfquote, aber auch dort liegt die Quote bei gerade mal 25 Prozent einmalig geimpfter Menschen. 

Es wird kaum bis zum Jahresende gelingen, den Rückstand in Ländern wie Tansania (bisher 1,4 Prozent Geimpfte) oder Äthiopien (2,7 Prozent) aufzuholen und dort, wie von Tedros gefordert, 40 Prozent der Menschen zu impfen. Selbst wenn die Industriestaaten, die sich gegenüber COVAX dazu verpflichtet haben, nun große Mengen an Impfdosen zur Verfügung stellen und die betroffenen Staaten in kürzester Zeit eine leistungsfähige Impflogistik aufbauen würden, was derzeit nicht absehbar ist.

Viel mehr Menschen sind infiziert als offiziell bekannt

Das heißt aber nicht, dass in den betroffenen Ländern nicht doch die Immunität gegen das Coronavirus zunimmt - und zwar ganz ohne Impfung. Denn es gibt starke Indizien dafür, dass die Anzahl der tatsächlich in Entwicklungsländern durch Corona infizierten Menschen lange unterschätzt wurde.

Das gilt zumindest dann, wenn wir davon ausgehen dürfen, dass jüngste Forschungsergebnisse aus Äthiopien auch auf andere Staaten Afrikas übertragbar sind.

Kaum Infektionen in Afrika - kann das möglich sein?

Das Coronavirus Resource Center der Johns Hopkins Universität, welches seine Zahlen unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezieht, geht davon aus, dass es in Äthiopien mit seiner Gesamtbevölkerung von etwa 112 Millionen Einwohnern bisher insgesamt erst 362.672 Coronafälle gab, und dass 6377 Menschen an oder mit der Krankheit gestorben sind. 

Nach den offiziellen Zahlen entspräche das einer Infektionsrate von nur 0,3 Prozent. Nur einer unter 17.500 Einwohnern wäre an COVID-19 gestorben. Zum Vergleich: In Deutschland sind bisher fast 4,5 Millionen Menschen erkrankt, also etwa einer unter 20. Einer von 842 Einwohnern ist daran gestorben. 

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Serologische Tests in Stadt und Land

Doch wahrscheinlich stimmen die offiziellen Krankheitszahlen vorne und hinten nicht. Ein deutsch-äthiopisches Team hat herausgefunden, dass seit Beginn der Pandemie in Äthiopien wahrscheinlich sogar deutlich mehr Menschen mit dem Coronavirus infiziert wurden als in Deutschland.

Die Forschenden der Tropenmedizin am LMU Klinikum München, der Jimma Universität und des St. Paul's Klinikums in Addis Abeba haben ihre Studie am 21. Oktober in The Lancet Global Health  veröffentlicht. 

Vierstellige Inzidenzraten

Zwischen August 2020 und April 2021 führten die Mediziner serologische Bluttests (ELISA)  unter medizinischem Personal in einer Klinik in Addis Abeba sowie bei Menschen in Addis Abeba und in Jimma durch. Die Forschenden untersuchten sowohl die Situation in der Stadt, als auch in ländlich geprägten Gemeinden.

Dabei kam heraus, dass unter den Medizinern die Seroprävalenz, also die Häufigkeit von Coronavirus-spezifischen Antikörpern im Blut, zwischen August 2020 und April 2021 von 10,9 auf 56,1 Prozent angestiegen war. Das entspräche über die neun untersuchten Monate einer durchschnittlichen Sieben-Tage-Inzidenz von 2223 auf 100.000 Menschen.

Ein ähnliches Bild zeigte sich aber auch unter Nicht-Medizinern. In Jimma, wo die Forschenden erst ab November Blutproben einsammelten, stieg die Seroprävalenz innerhalb von vier Monaten von 30,8 auf 56,1. Das entspricht einer durchschnittlichen Inzidenzrate von 3810.

In der Stadt war der Anstieg also etwas steiler als auf dem Lande. Allerdings gilt für beide Bereiche: Die Durchseuchung der Bevölkerung ist um ein vielfaches höher als offiziell angenommen.

Gibt es bereits Herdenimmunität?

Angesichts der Tatsache, dass seit dem Ende der Bluttests in der Studie noch weitere acht Monate vergangen sind, dürften sich noch viel mehr Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben. Ob einige äthiopische Gemeinden bereits eine natürliche Herdenimmunität aufweisen, müssten erst weitere Forschungen zeigen. 

Die Autoren verweisen allerdings darauf, dass vergleichbare Studien in der Demokratischen Republik Kongo und in Nigeria ebenfalls sehr hohe Seroprävalenzen von 41 bzw. 45 Prozent gezeigt hatten. Offenbar stehen die drei Länder nur beispielhaft für andere Staaten in Afrika.

Welche Ursachen es für die extreme Diskrepanz zwischen den offiziellen Infektionszahlen und die durch die Studien aufgezeigte Wirklichkeit gibt, muss noch weiter untersucht werden.

Dennoch drängen sich einige Mutmaßungen auf: So wurden in Äthiopien erst drei Prozent der Bevölkerung auf SARS-CoV-2 getestet, nämlich Patienten mit starken Symptomen, ihre Kontaktpersonen und Personen aus bestimmten Risikogruppen. Es kann also nur eine sehr beschränkte Patienten-Auswahl gewesen sein.

Gleichzeitig liegt es nahe, dass bei einer sehr jungen Bevölkerung viele Menschen nach einer Infektion asymptomatisch bleiben oder nur kurze Zeit milde Symptome zeigten, und sich gar nicht erst in medizinische Behandlung begeben haben.

Junge Menschen mit asymptomatischem Verlauf sind wiederum besonders prädestiniert, das Virus weiterzuverbreiten. 

Der Altersdurchschnitt liegt in Äthiopien bei unter 20 Jahren,  in Deutschland liegt der Altersdurchschnitt zum Vergleich bei über 45 Jahren. 

Dabei müssen wir davon ausgehen, dass zahlreiche COVID-19 bedingte Todesfälle als solche gar nicht erkannt wurden. Möglicherweise sind hochbetagte Menschen gestorben und wurden nie auf das Virus getestet.

Was bedeutet das für die Impfstrategie?

Sinnvollerweise sollte in Ländern mit einem vermutlichen vergleichbaren, unerkannten Infektionsgeschehen insbesondere diejenigen prioritär geimpft werden, die hochbetagt sind oder zu Risikogruppen gehören.

Darüber hinaus schlägt Michael Hoelscher, Direktor des Tropeninstituts am LMU Klinikum, eine Anpassung der Impfstrategie für afrikanische Länder vor. Impfstoffe sollten effektiver eingesetzt werden, sagt der Mediziner: "So könnte zum Beispiel vor einer Impfung der Antikörperstatus ermittelt und gegebenenfalls nur eine Dosis als Auffrischung verimpft werden."

Eines scheint jedenfalls klar: Das Virus hat die Impfteams, die in vielen Gebieten in Afrika erst jetzt langsam loslegen, bereits im letzten Winter überholt.

Fabian Schmidt Wissenschaftsredakteur mit Blick auf Technik und Erfindungen
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