"Gräser der Nacht"
16. November 2014"Mir ist, als hätte ich sie alle in jener Zeit wie hinter der Scheibe eines Aquariums gesehen" - heißt es an einer Stelle im Roman, der Ich-Erzähler räsoniert über die eigene Vergangenheit: Das ist er wieder, dieser Stil, den man als Modiano-Sound bezeichnen würde, wäre das Wort "Sound" bei diesem so französischen Autor nicht Fehl am Platz.
Auch in seinem neuen Roman "Gräser der Nacht", den sein deutscher Verlag angesichts des Nobelpreises ein paar Monate vorgezogen hat, klingt er wieder an, dieser unnachahmliche Tonfall, dieser Stil, der eine ganz eigene Aura entfaltet, eine spezielle Atmosphäre vor dem Auge des Lesers entstehen lässt: Erinnerungsfetzen, Träume, Halluzinationen verbinden sich mit Mutmaßungen, angedeuteten, aber fast nie ganz ausformulierten Handlungssträngen.
Auch hier wieder im Mittelpunkt: Ein Protagonist, der nach Jahrzehnten zurückblickt auf eine Episode seines Lebens, der nach den Orten und den Personen von damals sucht, Schauplätze, die wie immer ausschließlich in Paris liegen, die er aufsucht und abschreitet, auf der Suche nach einer verloren gegangenen Zeit.
Blick in die Vergangenheit
Wie durch die dicken, nicht völlig durchsichtigen Scheiben eines Aquariums blickt Jean im Roman zurück auf jene Tage und Wochen im Jahr 1965, als er der jungen Studentin Dannie und einer Gruppe von Männern begegnete, die in irgendeinen zunächst nicht näher beschriebenen Zwischenfall verwickelt scheinen. Es geht, so viel wird später klar, um den Mord an einem Marokkaner in Paris.
Wie der Leser im kurzen Nachwort der Übersetzerin erfährt, handelt es sich dabei um den marokkanischen Exilpolitiker Ben Bakra, ein Ereignis, das einst in Frankreich hohe Wellen schlug und eine weitere Etappe im unglückseligen Verhältnis zwischen Frankreich und den ehemaligen Kolonien in Nord-Afrika darstellte.
Doch Modiano geht es nicht um die authentische Rekonstruktion von realen Geschehnissen. Es geht wie immer bei diesem Autor um die Suche eines männlichen Protagonisten nach den Spuren der eigenen Vergangenheit, nach verblichenen Erinnerungen. Die Affäre Ben Bakra dient dabei nur als historische Folie.
Jean sucht sie nun also alle auf, die Boulevards und Gassen in Paris, die Cafés und Bibliotheken, all jene Orte, an denen er sich als Student traf mit der jungen Frau. Dabei entwickeln die Orte ein Eigenleben und Jean verliert sich immer wieder darin:
"Es war eine Manie, alles kennen zu wollen, was im Laufe der Zeit und in aufeinanderfolgenden Schichten irgendeinen Ort von Paris ausgefüllt hatte."
Literarischer Gedankenfluss
Die Schauplätze bringen Jean immer wieder auf andere Gedanken, er schweift ab, lässt sich treiben von einem Erinnerungsfluss, beobachtet die Welt um sich herum, wartet ab:
"Die Abende waren lang, wenn ich im Viertel blieb und auf sie wartete, aber das kam mir ganz normal vor. Mir taten Leute leid, die unzählige Verabredungen in ihre Terminkalender eintragen mussten, manche davon zwei Monate im Voraus. Für sie war alles festgelegt, und sie würden nie auf irgendwen warten. Sie würden nie erfahren, dass die Zeit wogt, sich weitet, dann wieder stillsteht und einem allmählich das Gefühl von Ferien und Unendlichkeit gibt, das andere in Drogen suchen, ich aber ganz einfach im Warten fand."
Schließlich, ganz am Ende des schmalen Romans gewährt Modiano dem Leser doch noch ein wenig Aufklärung, bringt Licht ins Dunkel der Erinnerung, erzählt was Dannie, damals in jenen nebelverhangenen Herbsttagen des Jahres 1965 'Schlimmes' getan hat. Doch "Gräser der Nacht" ist kein Kriminalroman, bei dem sich am Ende alles auflöst und aufklärt. Die Seele des Romans liegt vielmehr in dieser Erinnerung des Protagonisten an vergangene Zeiten. Das erfasst auch den Leser. Er wird wieder einmal hineingezogen in den Erinnerungsstrom des Patrick Modiano.
Patrick Modiano: Gräser der Nacht, übersetzt von Elisabeth Edl, Carl Hanser Verlag 2014, 176 Seiten, ISBN: 978-3-446-24721-5.