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In Russland gibt es keine "Bankenkrise" mehr

2. August 2004

- Beim staatlichen Fernsehen sind bestimmte Begriffe verboten

Moskau, 2.8.2004, NESAWISSIMAJA GASETA, russ., Sergej Warschawtschik

Beim staatlichen Fernsehen wird aktiv die Terminologie bei der Berichterstattung über die zwei empfindlichsten Themen – Lage in Tschetschenien und soziale Reformen – korrigiert. Ab jetzt dürfen bei den ersten zwei Kanälen ["Perwyj kanal" und "Rossija"] nicht nur einzelne Sujets und Personen nicht erwähnt werden, sondern auch bestimmte Worte nicht benutzt werden. Wie dem Kommentator der "Nesawissimaja gaseta" bekannt wurde, gibt es bei "Westi" [Nachrichtensendung des Kanals "Rossija"] eine ganze Liste von Begriffen, die genau nach Vorschrift benutzt werden dürfen. So darf es nicht mehr heißen "Tschetschnja", sondern nur noch "Tschetschenskaja Respublika", nicht "Kadyrow", sondern "Achmad-Chadschi Kadyrow", nicht "Sozialvergünstigungen durch Geldzahlungen ersetzen", sondern "Sonderzahlungen", nicht "Schahid", sondern "Gürtel des Schahids". Es wurde sogar verboten, das Wort "Killer" zu benutzen, ganz zu schweigen von einer "Bankenkrise". Vertreter des Fernsehsenders bestätigten der "Nesawissimaja gaseta" gegenüber, dass es entsprechende Direktiven tatsächlich gibt.

Der Chef von "Westi", Andrej Bystrizkij, lehnt einen Kommentar ab. Nicht jedoch die Beraterin des Vorsitzenden von WGTRK, Wiktorija Arutjunowa. Ihr zufolge "heißt die Tschetschenische Republik offiziell Tschetschenische Republik. Das Wort ‚Tschetschnja‘ wird lediglich in der Umgangssprache – in Telefongesprächen, bei Gesprächen in der Küche – verwandt. Das Fernsehen ist eine öffentliche Sache". Was "das Ersetzen von Sozialvergünstigungen durch Geldzahlungen" betrifft, so darf das nach Ansicht von Wiktorija Arutjunowa "beim Fernsehen ebenfalls nicht benutzt werden". Man müsse das Dokument so bezeichnen, wie es offiziell heiße. (...)

Ähnliche Vorschriften sind auch bei einem weiteren staatlichen Sender zu beobachten. Einem Manager von "Perwyj kanal" zufolge wird das getan, "um die Leute nicht zu täuschen". "Für die ist das sowieso ein recht kompliziertes System. Das wird getan, damit die verstehen, wovon die Rede ist, und nicht denken, dass es sich um etwas anderes, neues handelt, was man erst noch begreifen muss", sagte er.

Lediglich NTW erlaubt sich noch, Tschetschnja als Tschetschnja zu bezeichnen und die soziale Reform als "Ersatz der Sozialvergünstigungen durch Geldzahlungen". Hier, beim vierten Kanal [NTW] werden übrigens auch Berichte ausgestrahlt, die bei den zwei ersten Kanälen nicht mehr möglich sind. Im Unterschied zu NTW werden in den Nachrichtensendungen bei "Perwyj kanal" und "Rossija" weder die seltsamen Aufnahmen einer Person, die Bassajew ähnlich ist, in einem Waffenlager in Nasran, noch die Tatsache erwähnt, dass der stellvertretende Chef der Kreml-Administration, Igor Setschin, in den Direktorenrat des größten Erdölkonzerns des Landes – "Rosneft" – gewählt wurde, oder die Aktion der Jugendorganisation von "Jabloko", die eine Gedenktafel für Jurij Andropow am Gebäude des FSB mit Farbbeuteln bewarf. Beim staatlichen Fernsehen sind ganz andere Bilder zu sehen: Die historische Reise von Wladimir Putin auf die Krim zum Treffen mit Leonid Kutschma; der Vorsitzende der tschetschenischen Wahlkommission Abdul-Kerim Arsachanow, der den staatlichen Journalisten stolz berichtet, dass die Kandidaten eine Deklaration über den Wahlkampf unterzeichnet haben, was ermöglichen werde, "eine gute Wahlkampagne durchzuführen"; die Vorbereitungen der Regierung auf die Auszahlung von Geldern statt der Vergünstigungen, die zwar versprochen, jedoch nicht gewährt wurden.

Nach Ansicht des Direktors des nationalen Forschungszentrums für Fernsehen und Radio, Aleksej Samochwalow, ähneln die staatlichen Erneuerungen beim russischen Fernsehen sehr der Situation in der Ukraine: "Dort werden von der Präsidentenadministration so genannte ‚Themen-Vorschläge‘ verschickt, Empfehlungen an die Massenmedien, wie über das eine oder andere Thema zu berichten ist. Im Vergleich zu denen befinden wir uns im Anfangsstadium, bei uns wird erst die Terminologie gesäubert."

Wahrscheinlich werden demnächst der Informations-Vergangenheit auch solche Begriffe wie "Proteststreik", "Hungerstreik der Bergarbeiter", "Wortfreiheit" und andere angehören, Worte, die in der staatlichen Fernsehpolitik nicht gebraucht werden. Diese wird man als Umgangssprache bezeichnen, die lediglich im Telefongespräch oder in der Küche benutzt werden darf. Aller Anfang ist schwer. (lr)