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"In Weißrussland wird das Eigentum neu umverteilt"

13. August 2003

– Zu den Hintergründen der Festnahmen angesehener Industrieller des Landes

Köln, 12.8.2003, DW-radio / Russisch

Die strafrechtliche Verfolgung von Privatunternehmern ist in Weißrussland zu einer alltäglichen Erscheinung geworden. Meldungen über neue Festnahmen wundern niemanden mehr. Wovor hat das Lukaschenka-Regime Angst?

Beim Obersten Gericht Weißrusslands findet seit drei Monaten der Prozess gegen den ehemaligen Direktor des Minsker Traktorenbetriebes Michail Leonow statt. In diesem Strafverfahren wurden 150 Ordner angelegt, die Anklageschrift ist 500 Seiten dick, was in der weißrussischen Prozessordnung ein einmaliger Fall ist. Leonow befindet sich bereits seit 18 Monaten in Untersuchungshaft. Das Gericht weist die Bitten seines Anwalts, die Sicherungsmaßnahmen zu erleichtern, zurück.

Dem 50-jährige Leonow, einem der bekanntesten Industriellen Weißrusslands, wird eine Reihe von Verbrechen vorgeworfen. Zum Beispiel Unterschlagung der Gewinne, Legalisierung krimineller Erlöse, Erwerb von Fertigteilen im Ausland zu Preisen, die die Preise für die gleichen Fertigteile einheimischer Herstellung bedeutend übersteigen. Die Staatsanwaltschaft wirft Leonow vor, dass auf sein privates Konto bei der Commerzbank in Frankfurt am Main gesetzwidrig über 20 Millionen Dollar überwiesen wurden. Darüber berichtete Aleksandr Lukaschenka noch vor der Gerichtsverhandlung dem ganzen Land. Ihm zufolge gehören Familienangehörigen des ehemaligen Direktors auch Konten in Luxemburg.

Michail Leonow bezeichnete das von den Ermittlungsrichtern gesammelte Material als Material von "Boulevard-Detektiven". Der Industrielle behauptet, dass er nichts mit den Konten zu tun hat. Einige Millionen Dollar seien auf dem genannten Konto erst nach seiner Festnahme eingegangen. Wie Leonow behauptet, "gibt es viel Lärm, jedoch kein Geld: weder das, das angeblich in den Jahren 1997 bis 2001 auf meine Konten überwiesen wurde, noch das, das 2002 überwiesen wurde, als ich bereits im Gefängnis saß. Seltsam ist das alles. Wohin ist das Geld denn verschwunden und wer verwaltete so solide Ressourcen?"

Der Anwalt des ehemaligen Direktors, Aleksandr Samusew, will erreichen, dass sein Mandant frei gesprochen wird: "Wir sind der Ansicht, dass es keine Beweise dafür gibt, dass unser Mandant diese Verbrechen verübt hat. Michail Leonow gibt seine Schuld in keinem der Punkte zu, die ihm vorgeworfen werden."

Die Richter vermeiden es aus irgend welchen Gründen, unabhängige Wirtschaftsexperten heranzuziehen, versuchen, alles selbst einzuschätzen. So stellt sich die Frage, ob die Sache mit den "Leonow-Millionen" nicht einen politischen Hintergrund hat. Man darf nicht vergessen, dass während der letzten Präsidentschaftskampagne von Leonow als möglichem Präsidentschaftskandidaten gesprochen wurde. Es hieß, er sei ein Industrieller, der in Opposition zum Wirtschaftskurs des Landes steht.

Michail Leonow ist einer der 15 Direktoren, die Lukaschenka versprochen hat einzusperren. Zu den in Ungnade gefallenen gehört auch der Direktor des Minsker Kühlschrankbetriebes "Atlant", der 63-jährige Leonid Kalugin. Im Jahr 2001 wollte er bei den Präsidentschaftswahlen antreten, wurde jedoch nicht registriert. Nach den Wahlen wurde Leonid Kalugin festgenommen, ohne jegliche Begründung in ein Gefängnis gesperrt und einer psychiatrischen Expertise unterzogen.

Dem ehemaligen Direktor von "Atlant" wurden Amtsmissbrauch, gesetzwidrige unternehmerische Tätigkeit, "Nichtrückkehr" von Devisen aus dem Ausland vorgeworfen. Kalugin ist es gelungen zu beweisen, dass diese Devisen in Russland waren und für den Erwerb von Fertigteilen im Unionsstaat ausgegeben wurden. Die Gerichtsverhandlung, die über drei Monate dauerte, wurde eingestellt und Kalugin gemäß einer Amnestie entlassen. Er hatte Glück.

Der Leiter des staatlichen Konzerns Lebensmittelindustrie Wiktor Kasenko wurde zu 12 Jahren Gefängnis und dessen Sohn Andrej, ein Manager des Betriebes "MinskKristal", zu zehn Jahren Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt. Wieso sind diese angesehenen Industriellen in Ungnade gefallen? Der Präsident der "Assoziation zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung" Wassilij Schlyndikow sieht hier eine Reihe von Problemen:

"Einer der Faktoren ist, dass die Machthaber die Marktwirtschaft als solche ablehnen. Als Ergebnis geraten mutige und tatkräftige Leute, diejenigen, die ein Geschäft machen, die Wirtschaft bewegen, in eine Situation, in der die Rechtsschutzorgane beginnen, sich mit ihnen zu beschäftigen. Das ist in unserer Republik eine massenhafte Erscheinung. Der zweite Faktor ist das Bestreben der Machthaber, ihre Zukunft zu sichern, der Versuch, den Einfluss in der Wirtschaft bereits über Geld neu zu verteilen. Dabei ist doch der Kühlschrankbetrieb für manch einen ein Leckerbissen. Natürlich hat sich Kalugin der Umverteilung des Eigentums des Betriebes mit allen Kräften widersetzt. Deshalb fiel er in Ungnade. Bei ihm stand der Betrieb an erster Stelle, es ging immer nur um die Interessen des Betriebes. Das bedeutet, dass der Staat sich bei ihm für die langjährige Arbeit ‚bedankt hat‘. Was Leonow betrifft, so ist die Situation ähnlich. Ist doch Leonow eine Person mit Ambitionen, eine begabte Person, ein guter Organisator, der eine eigene Meinung hat über die Prozesse, die in der Gesellschaft stattfinden."

Wie wird das Eigentum in der weißrussischen Wirtschaft umverteilt, wo alle finanziellen und materiellen Ströme – von der Einfuhr von Äpfeln bis zu Erdöllieferungen – von der Macht nahe stehenden Strukturen kontrolliert werden?

Sie versuchen, sich alles zu unterstellen und räumen deshalb die nicht Genehmen aus dem Weg: entweder mit Hilfe von Kontrollorganen oder mit Hilfe der Rechtsschutzorgane. In Weißrussland wurde praktisch ein oligarchischer Kapitalismus lateinamerikanischen Modells geschaffen. Im Land hat sich eine kleine Gruppe sehr reicher Leute herausgebildet, die größte Masse bilden jedoch sehr arme Leute. Das Wirtschaftssystem im Land trägt nicht zur Entstehung einer Mittelklasse bei. (lr)