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Indien hofft auf Aufschwung durch Bevölkerungswachstum

Arthur Sullivan
2. Mai 2023

Seit Ende April ist Indien offiziell die bevölkerungsreichste Nation der Erde und hat China damit von Platz 1 verdrängt. Kann das Land daraus auch ökonomisch Kapital schlagen?

Menschen gehen dichtgedrängt auf einem Wochenmarkt einkaufen
Menschen gehen dichtgedrängt auf einem Wochenmarkt in Mumbai einkaufenBild: Ashish Vaishnav/SOPA/ZUMA/dpa/picture alliance

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) hat Indien nun eine Bevölkerungszahl von 1,425 Milliarden Menschen. Die UN verwenden dabei als Grundlage sowohl Volkszählungen als auch die Geburten- und Sterberaten. Es ist das erste Mal seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 1950, dass China nicht mehr bevölkerungsreichstes Land der Erde ist. 

Doch diese Nachricht wird keineswegs überall als Zeichen für Indiens wachsende Bedeutung als Weltmacht gewertet. Wang Wenbin, Sprecher des chinesischen Außenministeriums erklärte etwa, dass Indien nun zwar mehr Menschen habe, China aber immer noch mehr "Talent".

In Deutschland veröffentlichte das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zu der Nachricht eine Karikatur: Zu sehen ist ein vollkommen überfüllter, maroder "indischer" Zug, der einen stromlinienförmigen "chinesischen" Hochgeschwindigkeitszug überholt.

Politiker und Kommentatoren in Indien verurteilten diese Karikatur als rassistisch. In einem Tweet schreibt Sarvesh Kaushal, ehemaliger Minister im Bundesstaat Punjab: "Warum lässt die entwickelte Welt keine Gelegenheit aus, Indien unter der Gürtellinie zu treffen und seine Bevölkerung zu erniedrigen? Sie haben allen Grund zur Sorge: Sie sonnen sich in einer glorreichen Vergangenheit, während sie in eine finstere Zukunft blicken."

Doch welche Bedeutung, abgesehen von der Symbolik, hat die Tatsache, dass Indien nun das bevölkerungsreichste Land der Erde ist?

Herausforderung für Indien: die demografische Dividende 

Srikanth Kondapalli, Professor für China-Studien an der Jawaharlal Nehru University in New Delhi, findet, dass einige Reaktionen auf diese Entwicklung voreingenommen und rassistisch gegenüber Indien sind. 

"Wir denken, dass unsere Bevölkerung ein Vorteil ist und nicht ein Problem", erklärt er im Gespräch mir der DW. Er verweist darauf, dass das Durchschnittsalter in Indien 27 Jahre betrage und damit unter dem globalen Durchschnitt liege. Das, so meint er, verschaffe dem Land eine "demografische Dividende". "Die wesentlichen Indikatoren verbessern sich, die Alphabetisierungsrate steigt, ebenso die gesundheitliche Versorgung. Heute sind wir die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, 2030 wollen wir auf Platz 3 liegen."

Indien hat eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Für das Jahr 2023 erwartet die Weltbank für das Land ein Wachstum von etwa 6,9 Prozent. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht für die kommenden fünf Jahre von einer Wachstumsrate von durchschnittlich 6,1 Prozent aus. 

Indien hat jetzt mit 1,4 Milliarden die größte Bevölkerung der WeltBild: Kabir Jhangiani/ZUMA Press/picture alliance

Zwar wird die junge Bevölkerung des Landes häufig als Pluspunkt gesehen, doch Indien kämpft auch mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit. Im vergangenen Dezember erreichte die Arbeitslosigkeit in den Städten 10,1 Prozent, ein wachsendes Problem, zu dem auch Entlassungen infolge der Pandemie beitrugen. Für junge, gut ausgebildete Arbeitnehmer fehlt es vor allem an besser bezahlten, qualifizierten Jobs. Im verarbeitenden Gewerbe liegt die Arbeitslosenquote teilweise sogar bei fast 20 Prozent. 

Arbeitslosigkeit und Inflation sind die drängendsten Probleme in Indien vor den nächsten Wahlen, die im Mai 2024 stattfinden sollen. Für Kondapalli ist klar, worauf sich die Regierungspolitik fokussieren sollte, wenn Indien in den kommenden Jahren von seiner wachsenden Bevölkerung profitieren will: "Notwendig ist die Verbesserung der Infrastruktur und der Qualifizierung, es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden und das Arbeitsumfeld sowie andere grundlegende Indikatoren der Personalentwicklung verbessert werden", sagt er.

Trübe Aussichten für Peking

Für China geht es bei der Tatsache, dass es bei der Bevölkerungszahl von Indien überholt wird, um mehr als die reine Symbolik.

Auch wenn Chinas Wirtschaft viermal so groß ist wie die Indiens, ist Peking durchaus sensibel, wenn es um die schrumpfende und alternde Bevölkerung des Landes geht. Die Zahl der Chinesen über 65 Jahre wird sich bis 2050 mehr als verdoppeln und die jüngeren Arbeitskräfte stark belasten. 

Die regierende Kommunistische Partei Chinas hat verschiedene Maßnahmen ergriffen, um das Sinken der Geburtenrate zu stoppen. Die Reaktion in den chinesischen Staatsmedien zu den Meldungen aus Indien deuten auf eine gewisse Frustration bezüglich der Situation hin.

"Die USA verstärken ihre Bemühungen, Chinas Entwicklung einzudämmen und eine weitere Entkopplung voranzutreiben und sie haben dafür einen neuen Anlass in dem Bericht der Vereinten Nationen gefunden", heißt es in einem Kommentar bei CCTV, dem staatlichen Fernsehkanal, und: "Dabei fehlt es allerdings am grundsätzlichen Verständnis für die Gesetze der Bevölkerungsentwicklung."

Chinas Präsident Xi Jinping (r.) und Indiens Premier Narendra Modi: Die Rivalität zwischen beiden Ländern könnte in den kommenden Jahren zunehmenBild: Twitter/PTI/dpa/picture alliance

Die größte Bevölkerung, aber keine Supermacht

Kondapalli räumt ein, dass China Indien bei Schlüsselindikatoren wie der Alphabetisierungsrate und in der Gesundheitsversorgung immer noch übertrifft. Der Abstand sei jedoch nicht so groß, wie es von Peking dargestellt werde.

Er betont aber auch, dass das Bevölkerungswachstum allein keineswegs bedeute, das Indien in den Rang einer Supermacht aufsteigt. "Zur Supermacht wird man auf Basis des Bruttosozialproduktes, aufgrund von Technologie, militärischer Macht oder 'Soft Power' (Ein Begriff, der Machtausübung auf Grundlage kultureller Attraktivität, der Ideologie oder auch mit Hilfe internationaler Institutionen beschreibt; Anm. d. Red.). Kein Land wird eine Supermacht aufgrund der Größe seiner Bevölkerung", sagt er.

Kondapalli sieht einen grundlegenden ideologischen Unterschied zwischen Delhi und Peking in dieser Frage. "Indien hat keine Ambitionen, eine Supermacht zu werden. Wir haben von Xi Jinping gehört, dass China gerne im Mittelpunkt stehen möchte. Aber kein indischer Politiker hat jemals gesagt, dass Indien eine Supermacht werden will."

Da es nun nicht mehr das bevölkerungsreichste Land der Erde ist, hat China ein Argument verloren, mit dem es seinen Anspruch begründet, Supermacht zu sein. Wenn sich Indien erst an seinen neuen Status gewöhnt hat, könnten sich auch seine Ambitionen ändern.

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert von Andrea Lueg. 

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