Indien: Lösungen für wachsende Beschäftigungskrise gesucht
26. Juli 2024Indiens junge Arbeitskräfte haben zunehmend Schwierigkeiten, eine Beschäftigung zu finden. Innenpolitisch dürfte die dritte Amtszeit Narendra Modis nicht zuletzt deswegen vor der enormen Herausforderung stehen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Denn über 40 Prozent der rund 1,4 Milliarden Einwohner sind jünger als 25 Jahre.
Die politischen Auswirkungen des angespannten Arbeitsmarktes bekamen Modi und seine Bharatiya Janata Party (BJP) bereits bei den jüngsten indischen Parlamentswahlen zu spüren: Die Arbeitslosigkeit war ein wesentlicher Grund dafür, dass das Ergebnis für den Premier und seine Partei hinter den Erwartungen zurückblieb und die BJP die absolute Mehrheit verlor.
In dieser Woche stellte die indische Regierung ihren Haushalt für das Jahr 2024 vor. Dieser umfasst auch 24 Milliarden Dollar, mit denen in den nächsten fünf Jahren die Schaffung neue Arbeitsplätze gefördert werden soll.
"In diesem Haushalt konzentrieren wir uns besonders auf Beschäftigung, Qualifizierung, kleine Unternehmen und die Mittelschicht", sagte Finanzministerin Nirmala Sitharaman. Die Regierung werde ein Programm auflegen, das zehn Millionen jungen Menschen über einen Zeitraum von fünf Jahren Praktikumsmöglichkeiten in 500 Top-Unternehmen bieten solle, kündigte Sitharaman an.
Die Opposition reagierte verhalten. "Nach zehn Jahren des Leugnens scheint die Unionsregierung endlich stillschweigend zuzugeben, dass die Massenarbeitslosigkeit eine nationale Krise ist und dringend Aufmerksamkeit erfordert", schrieb Jairam Ramesh von der Kongresspartei in einem Tweet. "Es ist viel zu spät, und wie sich herausstellt, viel zu wenig - die Haushaltsrede ist mehr auf Symbolik als auf konkrete Taten ausgerichtet", so Ramesh weiter.
Shrijay Sheth, Gründer des Beratungsunternehmens LegalWiz, erwartet hingegen größere Anreize für Unternehmen. Im DW-Interview sagte er: "Aufgrund von Kostenvorteilen und des Zugangs zu einer großen Zahl junger Arbeitskräfte könnten sich Firmen für Indien entscheiden - auch, weil sie damit einen bevorzugten Zugang zu den indischen Märkten erhalten." So etwa strebe Hyundai an, in Indien an die Börse zu gehen, während Tesla Gespräche über die Einrichtung einer Fertigungsanlage in Indien führe. "Das sind Beispiele für das, was möglich ist", so Sheth.
Wachsende Jobkrise
Wie dramatisch die Lage derzeit ist, zeigte sich vor wenigen Tagen: In der vergangenen Woche wurde in Mumbai eine Jobbörse der Air India Airport Services abgesagt. Der Grund: ein übergroßer Ansturm von Interessenten. Auf 2220 Wartungsjobs hatten sich 25.000 Arbeitssuchende beworben.
Im Februar meldeten sich fast 4,7 Millionen Bewerber zu einer Prüfung für den Polizeidienst im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh an. 60.000 Stellen sollten vergeben werden. Solche Beispiele weisen auf die wachsende Arbeitslosigkeit in Indien hin.
"Sämtliche Berichte und Daten deuten darauf hin, dass junge Menschen enorm mit der Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Arun Kumar. "Die Regierung und alle ihre Behörden leugnen aber die Arbeitslosigkeit."
Der unabhängigen Denkfabrik Centre for Monitoring Indian Economy zufolge lag die Arbeitslosenquote in Indien im Juni bei 9,2 Prozent - ein starker Anstieg gegenüber den 7 Prozent noch im Mai dieses Jahres.
"All dies steht im Widerspruch zu der offiziellen Darstellung der Regierung, dass massiv Arbeitsplätze geschaffen würden. Warum spricht man das Problem nicht offen an und handelt, damit die wachsende Frustration der Jugend nicht überkocht?", so die Frage von Kumar.
Wirtschaftswachstum ohne zusätzliche Arbeitsplätze
Die indische Regierung prognostiziert für das Finanzjahr 2024 eine BIP-Wachstumsrate zwischen 6,5 und 7 Prozent. Im Vorjahr war bereits ein Wachstum von 8,2 Prozent verzeichnet worden.
Trotz dieser eindrucksvollen Zahlen hat Indien Schwierigkeiten, genügend Arbeitsplätze für die Millionen junger Menschen zu schaffen, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt drängen.
"Die Nachfrage nach Arbeitsplätzen lässt sich nur decken, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen", so Santosh Mehrotra, derzeit Gastprofessor am Centre for Development Studies an der Universität Bath in England. So müsse die Bautätigkeit in ihrem derzeitigen Tempo weitergehen. "In den nächsten ein bis zwei Jahren braucht es zudem allerdings Investitionen des öffentlichen Sektors, da die privaten Investitionen nur schleppend vorankommen."
Nach Angaben der Weltbank entfallen auf das verarbeitende Gewerbe in Indien 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In China macht das verarbeitende Gewerbe mehr als ein Viertel des BIP aus.
Die arbeitsintensive verarbeitende Industrie in kleinen und mittleren Unternehmen benötige eine nachhaltige Unterstützung durch Entwicklungs- und Ausbildungsprogramme, sagt Mehrotra. "Ein Recht auf einen Ausbildungsplatz ist unerlässlich."
Es brauche insbesondere Ausbildungsprogramme, bekräftig auch die Ökonomin Lekha Chakraborty vom National Institute of Public Finance and Policy in Neu-Delhi. "Der Arbeitsmarkt ist dynamisch. Wenn wir die Jugend nicht mit den erforderlichen Fähigkeiten ausstatten, lassen sich die Probleme der Arbeitslosigkeit nicht lösen." Es komme darauf an, die Lücke zwischen formaler Bildung und den spezifischen Ausbildungsanforderungen in Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungssektor zu schließen.
Formalisierung der Wirtschaft
In Indiens informellem Sektor, in dem die überwiegende Mehrheit der Arbeitsplätze angesiedelt ist, fielen in den vergangenen Jahren rund 16 Millionen Arbeitsplätze weg. Allein zwischen 2016 und 2023 wurden 6,3 Millionen Unternehmen des informellen Sektors geschlossen, wie aus einem Bericht der Ratingagentur India Ratings hervorgeht.
Zur informellen Wirtschaft gehören Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit, die sich im Besitz privater Haushalte befinden. Ebenso zählen zu ihr auch Arbeitsplätze, die nicht offiziell besteuert oder überwacht werden. In diesen Sektor fallen etwa Hausangestellte, Straßenverkäufer und Tagelöhner.
"Dieser Zeitraum fiel mit der zunehmenden Formalisierung der Wirtschaft zusammen, die zu robusten Steuereinnahmen geführt hat. Zwar ist die Formalisierung der Wirtschaft der Weg in die Zukunft. Doch der Rückgang des informellen Sektors hat enorme Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt ", sagt Sunil Kumar Sinha, Chefökonom von India Ratings.
Der Regierungshaushalt sehe Programme für Beschäftigungsanreize vor, erklärte Finanzministerin Sitharaman. So soll Berufsanfängern in formellen Sektoren ein zusätzlicher Monatslohn gewährt werden.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.