Indien und Pakistan: Streit ums Wasser geht weiter
19. Mai 2025
"Wasser und Blut können nicht zusammenfließen." So formulierte es der indische Premierminister Narendra Modi in seiner Ansprache an die Nation, nachdem Neu-Delhi und Islamabad am 10. Mai einen Waffenstillstand vereinbart hatten. "Wenn Pakistan überleben will, muss es seine Terrorinfrastruktur zerstören. Es gibt keinen anderen Weg zum Frieden."
Modi verzichtete in seiner Rede darauf, den Indus-Wasservertrag (IWT) zu erwähnen. Doch seine Botschaft war klar: Die Kämpfe sollen zwar enden. Das vor 64 Jahren geschlossene Wasserverteilungsabkommen mit Pakistan liegt aber weiterhin auf Eis.
Mit über 3000 Kilometern ist der Indus der längste Fluss Südasiens. Er umfasst ein komplexes System von Nebenflüssen, das von Tibet durch das geteilte Kaschmir nach Pakistan fließt und schließlich bei Karatschi ins Arabische Meer mündet.
Nachdem militante Islamisten 26 Zivilisten, fast ausschließlich männlichen Hindu-Touristen, im indisch verwalteten Teil Kaschmirs am 22. April getötet hatten, setzte Indien als eine der ersten Reaktion das Abkommen zur Wasserteilung einseitig aus.
Zu dem Anschlag bekannte sich eine Gruppe namens "Kaschmir-Widerstand", die auch als "Widerstandsfront" bekannt ist und mit der von den Vereinten Nationen als terroristisch eingestuften Lashkar-e-Taiba (LeT) in Verbindung steht.
Delhi machte Islamabad für die Unterstützung des brutalen Massakers verantwortlich. Islamabad weist die Beschuldigung zurück. "Wenn wir derzeit mit Pakistan sprechen, dann ausschließlich über Terrorismus", sagte Modi in seiner Fernsehansprache.
Auch Pakistan hat seine Haltung deutlich gemacht. Die Regierung in Islamabad betrachtet jede Entnahme von Wasser aus dem Indus als 'Kriegshandlung', da der Fluss die wichtigste Wasserquelle für die meisten pakistanischen Farmen und auch Wasserkraftwerke ist.
Wasserversorgung in Gefahr?
Was steht also auf dem Spiel, wenn eine Seite von einem Abkommen zurücktritt, das einst als seltene Erfolgsgeschichte zwischen den beiden Erzrivalen gefeiert wurde? Bislang nämlich bleib der Vertrag immer bestehen - auch in Kriegen, bei Terroranschlägen und in diplomatischen Eiszeiten.
Indien liegt näher an der Quelle des Indus als Pakistan - auch wenn der Fluss in Tibet entspringt und unter chinesischer Kontrolle steht. Zugleich liegt Indien am Brahmaputra, der in China als Yarlung Tsangpo entspringt und Millionen Menschen im Nordosten Indiens mit Süßwasser versorgt. Damit ist das Land anfällig für Entscheidungen, die flussaufwärts getroffen werden.
Indiens Versuch, den IWT als geopolitisches Druckmittel zu nutzen, untergrabe die rechtliche Integrität derartiger Verträge, sagt Farhana Sultana, Expertin für Wasser, Klima und Entwicklung. "Diese Vertragsverletzungen und -aufhebungen können aufgrund der Standards, die durch sie gesetzt werden, verheerende Folgen in der gesamten Region und darüber hinaus haben", so Sultana zur DW. "Jede einseitige Aussetzung eines Vertrags über grenzüberschreitende internationale Flüsse stellt eine ernste Bedrohung für die regionale Sicherheit dar".
Vertrauensverlust unter Nachbarn
Sollte die indische Regierung die Aufhebung des Vertrages im Fall Pakistans als wirksames und angemessenes Instrument betrachten, könnte sich zudem versucht sein, ihren Wasserbedarf auch über den ihres östlichen Nachbarn Bangladesch zu stellen, warnt Sultana, Geografin an der US-amerikanischen Syracuse University.
Indien teilt sich das Ganges-Einzugsgebiet mit Bangladesch im Rahmen des 1996 unterzeichneten Ganga-Wasservertrags. Dieser soll nächstes Jahr erneuert werden. Allerdings sind die diplomatischen Beziehungen zwischen Neu-Delhi und Dhaka angespannt, seit die ehemalige bangladeschische Premierministerin Sheikh Hasina 2024 nach ihrer Amtsenthebung nach Indien floh.
Ein weiterer Experte für grenzüberschreitende Wasserressourcen und Völkerrecht, der anonym bleiben möchte, stimmte Sultanas Einschätzung zu. "Grenzüberschreitende Wasserverträge schaffen Vertrauen und Vorhersehbarkeit für die Anrainerstaaten und werden üblicherweise von anderen Themen getrennt behandelt. Die einseitige Aussetzung gibt allen Staaten der Region Anlass zu ernsthafter Besorgnis", so der Experte zur DW.
Wenn Indien den Vertrag aussetze, dürfte dies auch Auswirkungen auf seine Beziehungen zu seinen anderen Nachbarn, insbesondere zu Bangladesch und China, haben, da so das Vertrauen untergraben werde, so der Experte. "China ist ein enger Verbündeter Pakistans."
China investiert erheblich in Pakistans Wasserkraftinfrastruktur am Indus. Es investiert zudem in die Bewirtschaftung des Flusses Teesta in Bangladesch. Auch dieser entspringt in Indien. Die Region ist von entscheidender Bedeutung für Chinas Seidenstraßen-Projekt.
Rechtliche Grauzone
Der Rahmen des über neun Jahre ausgehandelten und von der Weltbank vermittelten IWT enthält keine Austrittsbestimmung. Er etabliert ein mehrstufiges System zur Schlichtung von Streitfällen, das jedoch auf dem Prinzip gegenseitigen Einvernehmens gründet.
Der IWT kennt auch nicht die Möglichkeit einer "Aufhebung" ("abeyance"), wie die Formulierung lautet, die Indien in dem aktuellen Wasserstreit gewählt hat. Zwar hat Indien den Vertrag nicht offiziell gekündigt. Dennoch agiert es nicht vollständig im Rahmen des Vertrags. Das schafft eine rechtliche Grauzone.
Indiens Vorgehen beschädige dessen bisher behauptete "moralische Überlegenheit", sagt Gabriel Eckstien, Experte für Wasserrecht und -politik, der DW. Doch es gehe um noch mehr: "Das internationale Wasserrecht ist eine Funktion staatlicher Praxis. Mit anderen Worten: Eine Reihe von Staaten hat dies so lange praktiziert, dass jeder sagt, es handele sich um ein Gesetz. Doch jetzt, da bestimmte Staaten davon abweichen, wird das, was wir als internationales Wasserrecht verstanden haben, geschwächt und in Frage gestellt", so Eckstien.
Dabei bezieht sich der Experte auf das UN-Übereinkommen über das Recht der Nutzung internationaler Wasserläufe jenseits der Schifffahrt von 1997. Dieses verpflichtet Länder, gemeinsame Flüsse fair zu nutzen und schwere Beeinträchtigungen zu vermeiden.
Indien hat das Übereinkommen zwar nicht unterzeichnet, erkennt dessen Grundsätze aber grundsätzlich an und befolgt sie in der Praxis auch. Indien könne sich bei seinem Vorgehen auf Präzedenzfälle berufen, heißt es seitens der Observer Research Foundation, einem indischer Thinktank. Der Rechtsanwalt Nishant Sirohi schreibt, es gebe "begrenzte, aber bemerkenswerte" Beispiele dafür, dass Staaten aufgrund außergewöhnlicher Umstände vertragliche Verpflichtungen aussetzen.
Eines davon stammt aus dem Jahr 2023. Die USA setzten den New-START-Vertrag zur Reduzierung nuklearer Waffen mit Russland aufgrund von Nichteinhaltung teilweise aus. Dieser Schritt könnte rechtlich rückgängig gemacht werden, wenn Russland bestimmte Anforderungen erfüllt. Dies ähnele dem aktuellen Vorgehen Indiens in Bezug auf den IWT, so Sirohi.
"Eine kluge Politik"
Anamika Barua, Expertin für Wassersicherheit am Indian Institute of Technology in Guwahati, hält die Bedenken hinsichtlich eines Vertragsbruchs für unbegründet. "Hätte Indien den Vertrag ausgesetzt, hätte es das falsche Signal gesendet. Doch Indien hat bewusst den Begriff 'Aufhebung' verwendet. Damit will es Pakistan offenbar Zeit geben, sein Verhalten zu prüfen. Zugleich signalisiert Indien, dass Pakistan, wenn es Indiens Forderung erfüllt, womöglich wieder das alte Verhältnis zu Indien herstellen kann", sagt sie der DW. "Das ist eine kluge Politik."
Im April kündigte Indiens Minister für Wasserressourcen, C. R. Patil, an, sein Land arbeite an einem kurz-, mittel- und langfristigen Plan, der sicherstellen soll, dass "nicht einmal ein Tropfen Wasser aus dem Indus nach Pakistan gelangt". Zwar sind die Pläne nicht klar umrissen. Doch Medienberichte zufolge sehen sie kurz- bis mittelfristig eine Umleitung und langfristig den Bau von Wasserkraftwerken vor.
Allerdings sei nicht auszuschließen, dass sich die angestrebten Ziele nicht erreichen ließen, fürchtet Barua. "Kurzfristig könnte es ohne die notwendige Infrastruktur schwierig sein, den Flusslauf zu stoppen." Indien müsse den Bau großer Staudämme im Indus-System vermeiden, da diese das Ökosystem des Flusses schädigen und die Gemeinden flussabwärts beeinträchtigen könnten.
Wie geht es weiter?
Die Experten, mit denen die DW sprach, sind sich in einem Punkt einig: Indien und Pakistan müssen auf diplomatische Wege zurückkehren, um den Vertrag wieder in Kraft zu setzen.
Eckstien beispielsweise glaubt nicht, dass es einen juristischen Weg zu Lösung gibt. Die Weltbank könne als Vermittlerin nur im Rahmen des von Indien aufgehobenen Vertrages fungieren. Auch könne Islamabad Klage beim Internationalen Gerichtshof einreichen. Doch Indien erkennt dessen Zuständigkeit nur in sehr spezifischen Fällen an. Sollte es keine konkrete Vereinbarung geben, die Indien vor den internationalen Gerichtshof bringt, "könnte Indien einfach abwinken", sagt er.
Der pakistanische Premierminister Shehbaz Sharif erklärte, er sei bereit, Friedensgespräche mit Indien aufzunehmen, in die dann auch der IWT einbezogen wird.
Indien versucht seit Jahren, Pakistan an den Verhandlungstisch zu bringen, um den Vertrag neu zu verhandeln. Die indische Regierung ist der Ansicht, dass dieser die wachsende Bevölkerung und den Wasserbedarf Indiens nicht berücksichtigt. Sollten Gespräche stattfinden, dürften in ihnen auch die Neuverteilung der umstrittenen Gewässer eine Rolle spielen.
Ob alt oder überarbeitet, ein funktionierender Indus-Wasservertrag ist von entscheidender Bedeutung - sowohl für Indien als auch für Pakistan. Denn beiden Länder tragen die Hauptlast des Klimawandels und des dadurch zunehmenden Drucks auf ihre Süßwasserressourcen.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.