Indien: Wie sicher sind die Städte für Frauen?
12. September 2025
Das rasante Wachstum der Städte in Indien stellt Frauen vor immer größere Sicherheitsprobleme. Mit der zunehmenden Urbanisierung sind mehr fremde Menschen auf den Straßen unterwegs und die Zahl der Belästigungen von Frauen nimmt spürbar zu.
Der Nationale Jahresbericht und Index zur Sicherheit von Frauen (NARI) 2025, durchgeführt von der Nationalen Kommission für Frauen, befragte 12.770 Frauen in 31 Städten des südasiatischen Landes.
Etwa 40 % der Frauen in städtischen Gebieten Indiens gaben an, sich unsicher zu fühlen, während 7 % angaben, im vergangenen Jahr Belästigung erlebt zu haben. Besonders gefährdet sind junge Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren.
Mumbai, die mit über 20 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Stadt Indiens sowie Bhubaneswar, die Hauptstadt des ostindischen Bundesstaates Odisha, und Gangtok in Sikkim an den Hängen des Himalayas wurden als die sichersten Städte für Frauen eingestuft. Zu den am wenigsten sicheren gehören das indische Hautstadt-Territorium Delhi sowie Kolkata, die Hauptstadt von Westbengalen und Jaipur, die Hauptstadt von Rajasthan.
Wenn Angst zum Alltag wird
Die berufstätige Pratichi aus Delhi beschreibt die Normalisierung von Angst: "Die ständige Angst vor möglicher Gewalt ist immer präsent – so sehr, dass viele dies gar nicht mehr als ernsthaftes Problem wahrnehmen."
Der Nationale Jahresbericht und Index zur Sicherheit von Frauen stellte fest, dass das allgemeine Sicherheitsgefühl von Frauen – bereits tagsüber niedrig, nachts noch weiter abnimmt, insbesondere bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.
Diese alarmierenden Zahlen werfen Zweifel daran auf, wie effektiv die Stadtplanung tatsächlich zur Sicherheit von Frauen beiträgt.
"Ich habe in Delhi gelebt und wohne jetzt in Mumbai. Ich finde, die Straßen in Delhi sind schlecht beleuchtet und unsicher. Während meines Studiums wurde ich in Bussen angestarrt, sexuell belästigt und unangemessen berührt", sagt die Bollywood-Kostümbildnerin Manoshi Nath. Sie betont weiter: "Selbst in gehobenen Gegenden wurde ich von betrunkenen Männern verfolgt. Man ist ständig auf der Hut, besonders nach 20:30 Uhr."
Technik allein reicht nicht
Manche denken, die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum hänge davon ab, wie viele Kameras zur Überwachung eingesetzt werden und wie gut die Straßenbeleuchtung sei.
Doch der Soziologe Sanjay Srivastava, Professor an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London, betont: "Technische Lösungen allein reichen nicht aus. Wirkliche urbane Sicherheit erfordere die Verbindung von technischem Know-how mit sozialem Verständnis".
Er kritisiert, dass Stadtplaner oft auf "Verschönerung" setzen, etwa durch das Entfernen von Ständen auf dem Gehweg und Straßenverkäufern, die als "unordentlich" gelten. Dabei seien gerade diese Räume wichtig für die Sicherheit von Frauen.
Er verwies dabei auf das Konzept der "Augen auf der Straße": Die Präsenz von Anwohnern und Ladenbesitzern schrecke potenzielle Täter ab. So entstünden lebendige öffentliche Räume, die durch informelle soziale Kontrolle sicherer seien.
Der Soziologe hob außerdem hervor, dass es an öffentlichen Orten fehlt, an denen Frauen sich treffen oder Freizeit verbringen können. "Orte wie Läden, die Paan verkaufen (eine indische Betelspezialität, Anm. d.R.), sind meist männlich dominiert und bieten Frauen kaum Wohlbefinden", sagte er. Solange es keine inklusiven öffentlichen Räume für Frauen gebe, würden Städte für sie unsicher und abweisend bleiben.
Patriarchale Strukturen als Sicherheitsrisiko
Die Sozialforscherin Manjima Bhattacharya betont, dass gesellschaftliche Normen eine zentrale Rolle spielen. Öffentliche Räume in Indien seien stark geschlechtsspezifisch geprägt.
Sie verweist auf Shilpa Phadkes Buch Why Loiter?, das zeigt: Frauen dürfen sich meist nur mit einem konkreten Zweck im öffentlichen Raum bewegen – etwa zum Einkaufen oder um eine Schule zu besuchen. Männer hingegen können sich dort frei und zweckungebunden aufhalten.
Srivastava ergänzt, dass die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum tief in der patriarchalen Gesellschaft verankert ist. Historisch dominierten Männer die öffentlichen Räume, während Frauen auf das Private beschränkt waren, mit Folgen für den Zugang zu Chancen und Teilhabe.
Auch die Behörden spiegeln oft veraltete Denkweisen wider, etwa wenn sie hinterfragen, warum eine Frau spät abends oder allein unterwegs ist. Das sei Ausdruck eines Victim-Blaming, das Frauen ihr Recht auf öffentliche Räume abspricht.
Sichere Städte brauchen Mitgestaltung
Der Stadtplaner Sushmito Kamal Mukherjee fordert eine koordinierte Strategie: "Die Sicherheit von Frauen erfordert Planung, gute Regierungsführung, effektive Polizeiarbeit und ausreichende Finanzierung."
Er plädiert dafür, Umfragedaten zu nutzen, um damit Risikogebieten zu kartieren und betont: „Gut beleuchtete Straßen und offene Räume mit klarer Sicht verhindern unbemerktes Fehlverhalten."
Mukherjee kritisiert, dass Stadtplanung oft von Architekten dominiert werde, die soziale und wirtschaftliche Aspekte vernachlässigen. "Effektive Stadtplanung braucht einen interdisziplinären Ansatz", sagt er.
Partizipation als Schlüssel
Die Sozialforscherin Bhattacharya hebt die Bedeutung eines partizipativen Ansatzes hervor. Seit den 2000er-Jahren führen Frauenrechtsgruppen in Indien sogenannte Safety Audits durch – eine Methode, bei der Gemeinschaften ihre Sicherheitswahrnehmung im öffentlichen Raum selbst bewerten.
Doch Srivastava warnt: Diese Beteiligung beschränkt sich oft auf wohlhabende Frauen. Hausangestellte und Straßenverkäuferinnen aus dem informellen Sektor bleiben außen vor, obwohl sie andere Sicherheitsbedürfnisse haben.
Experten fordern daher die Einbindung von Basis-NGOs und Sozialforschern, um sicherzustellen, dass vielfältige weibliche Stimmen die Stadtplanung mitgestalten.
Sicherheit ist mehr als Infrastruktur
Das Verhalten im öffentlichen Raum spiegelt Werte wider, die im privaten Umfeld vermittelt werden. "Die Sicherheit von Frauen muss sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich angegangen werden. Sicherheit und Respekt sollten bereits in der Schule gelehrt werden", sagt Srivastava.
Die Sozialforscherin Manjima Bhattacharya bringt es auf den Punkt: "Wahre Sicherheit geht über Kameras und Polizei hinaus. Es ist ein fortlaufender Prozess, Städte zu schaffen, in denen Frauen sich nicht nur sicher, sondern auch frei fühlen".
Aus dem Englischen adaptiert von Shabnam von Hein