Indiens schutzlose Frauen
29. Mai 2014 Die beiden 14 und 16 Jahre alten Cousinen wurden Dienstagnacht (27.05.2014) von ihren Familien im Distrikt Badaun als vermisst gemeldet. Am Mittwoch entdeckte man die Leichen der Mädchen - sie hingen an einem Baum. Nach Angaben der Polizei sagte der Vater eines der beiden Mädchen, dass sie von fünf Männern vergewaltigt und anschließend gehängt wurden. Eine Untersuchung der Toten bestätigte den Missbrauch. Den Behörden zufolge könnten sich die Mädchen aber auch nach der Tat selbst erhängt haben.
Ein 18-jähriger Verdächtiger wurde festgenommen. Der Leichenfund hatte im Dorf Proteste gegen die Polizei ausgelöst. Die Bewohner warfen ihr vor, nicht auf die Vermisstenanzeige reagiert und die Suche verzögert zu haben. Sie blockierten eine Straße und forderten Konsequenzen für die verantwortlichen Beamten. Daraufhin wurden drei Polizisten suspendiert und gegen zwei weitere Ermittlungen wegen
mutmaßlicher Verschwörung mit den Tätern und Verzögerung der Suche aufgenommen. Die Polizei versprach, mit einem 60-köpfigen Team nach den weiteren Verdächtigen zu fahnden und diese bald festzunehmen.
Jahrhundertealte Tradition
Schon die altindischen Quellen haben der Frau eine untergeordnete Rolle in der Gesellschaft zugeordnet, sagt die Indologin Renate Syed von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Syed hat sich in ihrem Buch "Ein Unglück ist die Tochter" intensiv mit der Diskriminierung von Frauen im alten und modernen Indien auseinandergesetzt. "Die Frau galt immer als Eigentum des Mannes. Nur der Mann wird als ein Geschöpf der Vernunft betrachtet. Frauen galten als unvernünftig." Frauen müssten daher immer vom Mann kontrolliert werden, so Syed: "Das finden wir heute noch in Indien, wenn Frauen nicht erlaubt wird, sich eine eigene Identität aufzubauen. Frauen werden immer nur als Tochter eines Mannes oder als Ehefrau gesehen. So wird ihnen ihre Autonomie genommen." Sex gelte zudem als Tabuthema, so die Wissenschaftlerin.
Gesellschaft im Transformationsprozess
Die indische Gesellschaft befindet sich derzeit in einem rasanten Modernisierungsprozess. In den letzten Jahren konnte Indiens Wirtschaft mit Traum-Wachstumsraten von bis zu zehn Prozent aufwarten. Die Nuklear- und Regionalmacht fordert inzwischen selbstbewusst einen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Schon lange ist Indien kein Entwicklungsland mehr, was symbolhaft an den Glitzermetropolen Neu Delhi, Mumbai, Chennai oder Kalkutta deutlich wird. Doch die im Ausland so geschätzten, gut ausgebildeten IT- und Telekommunikationsspezialisten und Wissenschaftler sind in Indien selbst nur eine kleine Minderheit. Denn noch immer leben zwei Drittel aller Menschen auf dem Land und von der Landwirtschaft: dort, wo es oft mehrere Stunden am Tag keinen Strom und fließendes Wasser gibt. Viele von ihnen fühlen sich vom Aufschwung ausgeschlossen.
Mit Sorge beobachten Experten, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird und die Gesellschaft vor einer Zerreißprobe steht. "Die Frustration in der Gesellschaft wird immer größer", sagt auch Frauenrechtlerin Urvashi Bhutalia aus Delhi. Doch dies sei nicht der einzige Grund, warum die Gewalt gegen Frauen so tief in der Gesellschaft verhaftet sei. "Jeder kann sehen, dass unser Justizsystem nicht richtig funktioniert. Die Polizei ist teilweise korrupt. Oftmals wird sie ihrer Verantwortung nicht gerecht." Frauenrechtlerinnen wie Bhutalia kritisieren, dass die Polizei bei Vergewaltigungen häufig die Täter schützt: vor allem dann, wenn es sich um einflussreiche oder wohlhabende Persönlichkeiten handelt. Dann ist es an den Frauen, die Tat zu beweisen. Im hoffnungslos überlasteten Justizsystem dauert es zudem oft Jahre, bis es zu einem Verfahren kommt: ein kostspieliger und nervenaufreibender Prozess.
Kulturelle Traditionen
Doch es gibt noch weitere Gründe, warum Frauen in der indischen Gesellschaft oft benachteiligt werden. Seit jeher wird in Indien bei der Heirat nach hinduistischem Brauch eine teils horrende Mitgift von der Familie der Braut verlangt. Obwohl sie schon seit Jahrzehnten verboten ist, lässt sich diese Tradition kaum ausrotten. Denn die Familie der Braut würde ihr Gesicht verlieren, falls sie sich weigerte, die Mitgift zu bezahlen. Frauen und Mädchen sind also eine große finanzielle Bürde. In manchen Regionen, vor allem in den nördlichen Bundesstaaten wie Punjab und Haryana, ist es in den vergangenen Jahren auch aus diesem Grund zur vermehrten Abtreibung weiblicher Föten gekommen. Auch diese Praxis wurde unter Strafe gestellt. Doch die teils extrem aus dem Lot geratenen Geschlechterverhältnisse in diesen Bundesstaaten sprechen eine andere Sprache.
Geringe Bildung
Die Benachteiligung der Mädchen beginnt sehr früh. Studien belegen, dass in vielen Regionen Frauen ihre Söhne länger stillen als ihre Töchter. Zudem wird in kinderreichen Familien die Schulbildung der Mädchen oft zugunsten der von Jungen geopfert. Trotzdem gilt, dass Mädchen nach der Heirat in die Familie des Ehemanns übergehen und damit für die eigene Familie verloren sind. Es ist daher für die Eltern immens wichtig, die Söhne auszubilden, denn sie sind in einem Land, wo es keinerlei soziale Sicherungssysteme gibt, deren Altersversicherung. Auch dieser Tradition versucht die indische Regierung entgegen zu wirken. So ist der Schulbesuch von Mädchen an staatlichen Schulen frei. Der Zensus von 2011 belegt die Fortschritte. Die Alphabetisierungsrate liegt für Frauen in Indien nun bei 65,4 Prozent, 2001 waren es nur knapp 48 Prozent. Doch die der Männer ist weit höher.
All dies macht Frauen zu leichten Opfern, sagt die Indologin Renate Syed, wobei die Täter teilweise sogar Kleinkinder missbrauchen. Im April 2013 hatte ein Fall für Schlagzeilen gesorgt, bei dem das vergewaltigte Mädchen erst fünf Jahre alt war: "Es ist die leichte Verfügbarkeit, auch wenn mir dieses schreckliche Wort kaum über die Lippen kommt. Kinder sind in Indien auf der Straße, man kann sie sich leicht greifen. Und gerade kleine Mädchen sind oft eingeschüchtert. Sie werden traditionell erzogen, brav zu sein, zu gehorchen und Männer als Autoritäten anzusehen." Syed meint allerdings, dass bei einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen die tatsächliche Zahl von Gewaltverbrechen an Frauen geringer ist, als man im Moment durch die intensive Berichterstattung annimmt. "Diese schrecklichen Fälle vermitteln das falsche Bild, dass dies in Indien überproportional häufig geschieht. Das ist aber nicht der Fall."
Ruf nach Wandel
Frauenrechtlerin Urvashi Bhutalia sieht dennoch positive Anzeichen für eine Veränderung. Inzwischen sei eine gesellschaftliche Diskussion entstanden und mehr Fälle würden angezeigt: "Das Strafrecht wurde verschärft, obwohl nicht alle unsere Vorschläge von der Regierung angenommen wurden. Dennoch sehe ich das neue Gesetz als ersten Erfolg." Ein echter Wandel sei aber nur durch mehr Bildung möglich. Die müsse in den Familien anfangen, so Bhutalia weiter. Zudem müssten mehr Frauen in die Politik: "Auf Dorfebene in den Dorfräten hat eine Quotenregelung für Frauen schon einiges bewirken können. Dies ist auch auf nationaler Ebene dringend nötig." Ein Wandel werde kommen, da ist sich Bhutalia sicher. Doch sie weiß auch, dass dies noch ein langer Prozess sein wird.