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Indiens Wirtschaft in der Rezession

29. November 2020

Harte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben Indiens Wirtschaft zur Vollbremsung gezwungen, unter den Folgen leiden auch deutsche Firmen. Dazu kommen Massenproteste von Bauern. Wie tief steckt Indien in der Krise?

Fischerboote im Kasimedu-Hafen in Chennai
Bild: Getty Images/AFP/A. Sankar

Es ist eine Premiere für Asiens drittgrößte Volkswirtschaft: Nach zwei Minus-Quartalen steckt Indien jetzt offiziell in einer Rezession - das erste Mal, seit im Jahr 1996 solche Konjunkturdaten erhoben werden.

Nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde schrumpfte die indische Wirtschaft in den drei Monaten von Juli bis September im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 7,5 Prozent. Volkswirte hatten nach dem harten Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit einem Minus von mehr als acht Prozent gerechnet. Und im Vergleich zum Absturz des Bruttoinlandsprodukts im Vorquartal von minus 24 Prozent sind die aktuellen Daten schon fast ein Grund zum Feiern.

Dabei hatte es in den vergangenen Wochen schon Abgesänge auf den Hoffnungsträger unter Asiens Schwellenländern gegeben, von der Abkehr ausländischer Investoren war die Rede. "Globale Konzerne setzen nicht mehr auf Indien", titelte das Handelsblatt vor wenigen Tagen und berichtete von teilweise dramatischen Auswirkungen des Wirtschaftseinbruchs in Indien, auch für deutsche und andere ausländische Firmen. Tatsächlich will der US-Motorradbauer Harley-Davidson seine indische Fabrik dicht machen und der japanische Autokonzern Toyota hat seine Expansionspläne in Indien auf Eis gelegt, berichtet die Düsseldorfer Tageszeitung.

Starker Einbruch - auch für ausländische Firmen

Das Ergebnis einer aktuellen Studie der auf Indien spezialisierten Beratungsfirma Wamser + Batra wirkt auf den ersten Blick niederschmetternd: Fast jedes zweite befragte Unternehmen bewertete seine aktuelle Geschäftslage in Indien als schlecht. Sechs von zehn Firmen mussten zum Teil empfindliche Umsatzeinbrüche hinnehmen, während nur 18 Prozent von guten Geschäften berichteten. Allerdings befinden sich 40 Prozent der indischen Niederlassungen der befragten Unternehmen weiterhin auf Wachstumskurs, jedes dritte will sogar seine Produktionskapazitäten ausbauen.

Menschenleere Straßen während des Lockdowns Ende März in Mumbai Bild: picture-alliance/dpa/ZUMA/Ashish Vaishnav

Studienautor Wolfgang Bergthaler räumt ein, dass ausländische Firmen durch die Folgen der Pandemie in Indien stark betroffen sind. "Nach unserer aktuellen Studie Geschäftsklimaindex Indien gehen aber 52 Prozent der Unternehmen für das Jahr 2021 wieder von einem günstigeren Geschäftsverkauf aus und erwarten steigende Umsatzzahlen in Indien", unterstreicht Bergthaler im Interview mit der DW. Auch die Unternehmen, die aktuell besonders hart getroffen wurden, blickten eher optimistisch in die Zukunft. Die Indien-Spezialisten hatten für ihre aktuelle Studie mehr als 100 Entscheider deutscher, österreichischer und Schweizer Firmen zu ihrem Indien-Geschäft befragt.

Die Mehrzahl der deutschen Unternehmen, die in Indien tätig sind, kommt aus dem Maschinenbau, erklärt Bergthaler. Der Industrie ginge es im Vergleich zu den Unternehmen im Endkundengeschäft- oder im Dienstleistungssektor noch vergleichsweise gut, sagt er, während die Automobilzulieferer auch in Indien ziemlich "bluten" mussten.

Zu früh für Abgesang auf Indien

Doch das Schlimmste scheint überstanden, mittlerweile regt sich in Indien leichter Optimismus. "Während der Landwirtschaftssektor, unterstützt durch eine gute Monsun-Saison und staatliche Subventionen, ein Lichtblick ist, glauben wir, dass sich die Erholung wahrscheinlich weiter über die gesamte Wirtschaft ausbreitet und kurz davor ist, sich zu verfestigen", schreibt Rahul Bajoria, Indien-Chefvolkswirt der britischen Barclays Bank mit Sitz in Mumbai, in einem aktuellen Bericht.

Besonders die Zulieferer-Branche wurde hart getroffen: Bosch-Produktion in BangaloreBild: imago/photothek

Das fällt mit einem spürbaren Rückgang der täglichen Infektionen zusammen. Mittlerweile werden nur noch halb so viel neue Infektionen gezählt wie noch Mitte September. Damals hatte es nach offiziellen Daten pro Tag mehr als 97.000 neue Infektionen gegeben.

"Angesichts der steigenden Zahl der Fälle in anderen Ländern ist Indien bei den Neuinfektionen und auch bei den Todesfällen nicht mehr das am stärksten von Corona betroffene Land der Welt", stellt Bajoria fest. Barclays rechnet für das Gesamtjahr nun mit einem Minus von 6,4 Prozent - das ist deutlich weniger als der Rückgang um 9,5 Prozent, mit dem Indiens Zentralbank, die Reserve Bank of India (RBI), bislang rechnet.

Krise als Normalzustand

Auch Wolfgang Bergthaler ist davon überzeugt, dass man Indien nicht so schnell abschreiben soll: "Indien verfügt über ein extrem hohes Maß an Resilienz. Dort ist die Krise quasi Normalzustand. Das Land und seine Wirtschaft mussten in den letzten Jahrzehnten viele Prüfungen meistern - darin ist man in Indien geübt."

Studienautor Wolfgang Bergthaler: "Corona hat jahrzehntelange Entwicklungen sichtbarer gemacht" Bild: Privat

Der Studienautor weist darauf hin, dass sich am "Big Picture" langfristig nichts geändert habe: Indien hat eine junge, konsumhungrige Gesellschaft. Der Ausbau und die Erneuerung von Industrie und Infrastruktur würden weiterhin für neue Jobs sorgen. Mit ihrer "Make in India"-Strategie habe die indische Regierung dazu ein klares Bekenntnis abgegeben. Außerdem sei es politisch gewollt, Indien mit der "Self-reliant India"-Strategie unabhängiger von ausländischen Importen zu machen. "Das heißt im Umkehrschluss für die deutsche Industrie, dass sie in Indien auch produzieren muss, um sich einen größeren Teil des Marktes zu sichern", so Bergthaler.

Bauernproteste gegen Agrar-Reform 

Viele Bauern, die einen Preisverfall ihrer Erzeugnisse durch neue Landwirtschaftsgesetze der Regierung Modi befürchten, treibt es auf die Straße. Mittlerweile sind zehntausende Bauern, die um ihre Existenz fürchten, zu einem Protest-Marsch in die Hauptstadt Neu Delhi aufgebrochen. 

Sie sehen sich als Opfer der von Modi vorangetriebenen Liberalisierung der Agrarmärkte, die es den Bauern ermöglicht, ihre Erzeugnisse direkt zu vermarkten, statt sie zu staatlich garantierten Mindestpreisen zu verkaufen. Das gebe Agrar-Großhändlern zu viel Macht und begünstige vor allem Großbauern - zu Lasten vieler Millionen Kleinbauern. 

In Deutschland hat Corona viele Missstände aufgedeckt, etwa in der fleischverarbeitenden Industrie. Auch in der indischen Volkswirtschaft hat die Pandemie viele Unwuchten sichtbar gemacht. Millionen Wanderarbeiter aus ländlichen Regionen verloren fast über Nacht ihre Jobs. Das Heer der Fabrikarbeiter, Haushaltshilfen und anderer Menschen, die das Rückgrat der Wirtschaft bilden, sei auch in Indien plötzlich sichtbar geworden, erklärt der Indien-Experte.

Modernisierungs-Schub durch die Pandemie?

"Wir sprechen hier von Dutzenden Millionen Menschen, die in den Städten, teils als Tagelöhner, einfache Arbeiten verrichten, in Fabriken oder am Bau arbeiten. Viele sind noch immer in den Dörfern und hinterlassen sichtbare Lücken in Wirtschaft und Gesellschaft", sagt Bergthaler. Unternehmen seien jetzt teilweise vergeblich auf der Suche nach Arbeitern, was auch in Indien den Ruf nach mehr Automatisierung geweckt habe. Das sei ein Dilemma, aber auch kein neues Phänomen. Covid-19 sei auch hier nur eine beschleunigende Kraft: Schon vor der Pandemie hätten auf den Baustellen in Delhi, Mumbai oder Bangalore viel weniger Menschen gearbeitet als noch vor zehn Jahren. "Wenn man so will - und ohne zynisch zu sein - ersetzen deutsche, amerikanische oder koreanische Maschinen die einfachen Arbeiter, die ihre schlechtbezahlten und teilweise menschenunwürdigen Jobs verlieren."

Dass dabei immer weniger Maschinen aus China zum Einsatz kommen werden, davon geht nicht nur Bergthaler aus. Denn Indien will den Einfluss Chinas in der eigenen Wirtschaft zurückdrängen, die Regierung gibt sich entschlossen, auch die Importe aus dem Reich der Mitte zurückzufahren. "Unternehmensbeteiligungen chinesischer Investoren sind weitgehend unerwünscht und praktisch unmöglich."

Boykott-Aufrufe gegen chinesische Produkte Ende Juni in MumbaiBild: picture-alliance/AP Photo/R. Maqbool

Anti-China-Kurs geht weiter

Dass sich Indien an der neuen Freihandelszone mit China und den ASEAN-Staaten nicht beteiligt, sei vor allem der starken Anti-China-Stimmung im Land geschuldet. "Da macht ein Freihandelsabkommen unter der Führung von China politisch natürlich keinen Sinn. Premier Modi suchte unter Trump die Nähe zu den USA. Ob auch Joe Biden diese 'Liebe' erwidert, wird man sehen", so Bergthaler.

Beobachter sind sich weitgehend einig, dass sich Indien mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern ein weiteres Herunterfahren seiner Wirtschaft schlichtweg nicht leisten kann. Regierungschef Modi scheint mittlerweile nach dem Motto "Augen zu und durch" sein Land durch die Krise zu steuern. Kritiker werfen ihm vor, dass die sinkenden Infektionszahlen durch deutlich weniger Corona-Tests zustandekommen.

Auf jeden Fall rechnen die Indien-Experten von Wamser + Batra für 2021 mit vielen Nachholeffekten und einer Rückkehr zum Wirtschaftswachstum. "Während Europa wieder im Lockdown steckt und den USA der Winter noch bevorsteht, wurde die Gesundheitskrise in Indien quasi 'für beendet erklärt' und man konzentriert sich wieder aufs Wirtschaften", bringt Bergthaler Modis Kurs auf den Punkt. Und so geht er davon aus, dass Indien - rein wirtschaftlich gesehen - das Schlimmste hinter sich hat.

Thomas Kohlmann Redakteur mit Blick auf globale Finanzmärkte, Welthandel und aufstrebende Volkswirtschaften.
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