Familien im Bann des Terrors
17. Mai 2018"Ich kann es einfach nicht begreifen", sagte Tri Rismaharini, Bürgermeisterin von Surabaya. Die gläubige Muslima und resolute Mutter von zwei Kindern brach vor TV-Kameras in Tränen aus, als sie erfuhr, dass die Selbstmordattentate auf drei Kirchen in ihrer Stadt am vergangenen Sonntag von einer sechsköpfigen Familie ausgeführt worden waren: Eltern, die ihren vier Kindern im Alter zwischen neun und 18 Jahren Sprengstoff umbanden und sie anwiesen, sich zeitgleich mit ihnen in die Luft zu sprengen. Sie rissen 13 Menschen mit in den Tod, mehr als 40 wurden verletzt. Noch am selben Tag starb ein Elternpaar mit seiner ältesten Tochter in einer Wohnung im ostjavanischen Sidoarjo, als eine Bombe gleicher Bauart wie die in Surabaya vorzeitig explodierte. Das Ehepaar hinterlässt drei Kinder.
Am darauffolgenden Montag sprengte sich in aller Frühe eine fünfköpfige Familie in der Einfahrt zur Polizeizentrale von Surabaya in die Luft. Eine achtjährige Tochter wurde weggeschleudert und überlebte schwer verletzt. Alle drei Familien gehörten dem islamistischen Terrornetzwerk Jamaah Anshalut Daulah (JAD) an, das sich als Partisanengruppe des Islamischen Staats (IS) bezeichnet.
Neue Dimension des Terrors
Schon früher gab es Terroranschläge in Indonesien. Nach der Demokratisierung des Landes 1998 verübte die extremistische Jemaah Islamiyah (JI) eine Serie von tödlichen Attentaten, darunter die sogenannten Bali-Bomben, bei denen 2002 im Touristenzentrum Kuta mehr als 200 Menschen starben. Doch bis zum vorläufigen Ende des JI-Terrors auf indonesischem Boden 2009 handelte es sich bei den Tätern ausschließlich um erwachsene Männer. Frauen verrichteten höchstens Botendienste oder wickelten Geschäfte zur Vorbereitung ab. In seltenen Fällen wurden Waisenkinder in Attentate einbezogen.
Die jüngsten Anschläge von Surabaya haben eine neue Dimension: Es waren weltweit die ersten Selbstmordanschläge, die von ganzen Familien ausgeübt wurden. Für Experten kam das dennoch nicht überraschend. Nach Schätzungen der Behörden folgten rund 700 Indonesier - darunter ganze Familien - dem Ruf des IS und gingen nach Syrien. Nach der Niederlage der Jihadisten-Miliz kehrten etwa 500 indoktrinierte IS-Anhänger nach Indonesien zurück. Männer, Frauen und Kinder. Es ist noch unklar, ob die Terroristenfamilien von Surabaya selbst in Syrien waren. Mit Sicherheit aber haben sie sich von der IS-Doktrin inspirieren lassen, den Kampf für einen islamischen Staat in ihren Heimatländern fortzusetzen und auch ihre Kinder für diese Ziele einzusetzen.
Terror als Familienangelegenheit
"Der IS war von Anfang an eine Familienangelegenheit", sagt Sidney Jones, Direktorin des Instituts für Politische Analyse von Konflikten mit Sitz in Jakarta. Sie erinnert daran, dass das selbsternannte Kalifat ganze Familien ermutigte, nach Syrien zu ziehen. Die Väter sollten kämpfen, die Mütter neue Kämpfer gebären und aufziehen sowie die Verwundeten versorgen, die Kinder in einem "reinen" islamischen Staat aufwachsen. "Nur mit normalen Familien, die ein normales Leben führten, konnte der IS für sich beanspruchen, wie ein normaler Staat zu funktionieren", erklärt die Terrorismusexpertin.
Doch den Frauen reichte die für sie vorgesehene Rolle nicht aus, wie sich vor allem aus sozialen Medien herauslesen lässt. Sie wollten sich aktiver beteiligen und bewunderten Selbstmordattentäterinnen in Palästina, Irak und Tschetschenien. Im August 2015 berichteten die Medien über eine indonesische Großfamilie, die nach Syrien ausreisen wollte: 27 Personen, einschließlich eines Säuglings und einer 78-jährigen Großmutter im Rollstuhl. 20 schafften es bis an ihr Reiseziel, 17 kamen zwei Jahre später zurück. "Das war kein Fall, bei dem Männer widerstrebende Frauen mit sich zogen. Es waren die Töchter und Ehefrauen der Gruppe, die oftmals entschlossener waren als die Männer", schreibt Sidney Jones in einer Analyse über die Terroristenfamilien. Es seien die Familien als Ganzes, die glaubten, dass jeder außerhalb des IS ihr Feind sei.
Staat muss sich mehr um Familien kümmern
Im indonesischen Terrornetzwerk JAD, das die jüngsten Anschläge verübt hat, haben sich all jene zusammengefunden, die vom Ende des Kampfes der Jemaah Islamiyah (JI) 2009 enttäuscht waren. Vor allem junge, in Afghanistan oder den Philippinen ausgebildete Jihadisten wandten sich später dem IS zu und saugten dessen Doktrin auf. Seit dem Ende der IS-Herrschaft in Syrien richten sie ihre Wut gegen die indonesische Polizei, die in den vergangenen Jahren zahlreiche JAD-Mitglieder verhaftet oder erschossen hat.
Tatsächlich hat Indonesien viel in die Bekämpfung von Terrorismus investiert und auf diese Weise in den vergangenen Jahren zahlreiche Attentate verhindert. Doch eine übergreifende Infrastruktur zur Deradikalisierung von Terroristen und ihren Angehörigen gibt es bislang nicht. Wenn überhaupt eine Betreuung stattfindet, ist sie meist kurzfristig und ausschließlich an männliche Gefangene gerichtet. Programme für ganze Familien sind nicht vorgesehen. Der Vorsitzende der Kommission für Kinderschutz, Susanto, warnt, dass die Regierung vor allem mehr auf die Radikalisierung von Kindern achten müsse. "Das Risiko der Indoktrinierung ist einfacher zu überwachen, wenn die Täter von außen kommen", räumt er ein. "Es ist aber äußerst gefährlich, wenn radikale Ideologien bereits in den Raum der Familie eingedrungen sind."
Pausenlose Indoktrinierung
Keines der Kinder, die an den Anschlägen von Surabaya beteiligt waren, ging in eine reguläre Schule. Laut Polizei lebten sie völlig isoliert und sind zu Hause von kleinauf unter anderem mit gewalttätigen Jihad-Videos indoktriniert worden. "Diese Familien sind überzeugt, dass sie so gemeinsam ins Paradies gelangen. Nach ihrer Vorstellung können die Väter nicht einfach ihre Kinder zurücklassen. Vielleicht nehmen sie ihre Frauen und Kinder auch mit in den Tod, damit diese hinterher nicht allein mit dem Stigma weiterleben müssen", sagt Nasir Abbas, ein prominenter JI-Aussteiger, in der indonesischen Zeitung Kompas. Er kümmert sich heute um Frauen und Kinder inhaftierter Terroristen, die von der Gesellschaft ausgestoßen wurden.
Terrorismusexpertin Sidney Jones sieht die wichtigste Aufgabe des Staates nun darin, die vorhandenen Familiennetzwerke der Terroristen aufzuspüren. Tatsächlich hat die indonesische Spezialeinheit für Terrorismusbekämpfung Densus 88 direkt nach den Anschlägen in Surabaya zwei weitere Familien ausfindig gemacht und festgenommen, die mit den anderen Attentätern im Austausch waren. Einer der Väter wurde dabei erschossen. "Die Regierung muss dringend mehr über diese Familien und ihren Hintergrund erfahren, bevor sie strategische Programme entwickeln kann", betont Jones. "Wenn drei Familien an zwei Tagen in derartige Terrorattacken in Surabaya involviert sein können, dann gibt es sicherlich noch mehr, die bereit sind, so zu handeln."