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Transkript: 52. Wie gelingt Inklusion in der Schule?

25. August 2022

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Auch in der Erziehungswissenschaft stellt man sich inzwischen den Fragen der Inklusion.

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus und heute wird es wissenschaftlich. Bei mir im Podcast ist Dino Capovilla. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen und Allgemeine Heil- und Sonderpädagogik an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg.

Schönen guten Tag!

Dino Capovilla: Guten Tag!

Matthias Klaus: Was bringt einen Menschen, der eigentlich mal Mathematiklehrer war, in die Forschung?

Dino Capovilla: Ja, das ist eine lange Geschichte. So eine Biografie sieht im Nachhinein ja immer ganz geplant und ganz zielführend aus. So war es bei mir tatsächlich nicht.

Ich habe mich eigentlich schon recht bewusst irgendwann entschieden, Lehrer zu werden. Auch die Fächer Mathematik und Informatik waren so ziemlich mein Ding. Nur dann ist meine Sehbeeinträchtigung fortgeschritten und plötzlich stand ich vor 30 Kindern, also nach dem Umzug nach Deutschland - in Italien waren die Klassen kleiner - und in Deutschland dann, mit 30 Kindern, ist es mir nicht mehr gelungen, die einzelnen Lernenden auseinanderzuhalten. Und dann musste ich schweren Herzens diesen Beruf aufgeben, wollte dann mal Physiotherapeut werden, ein ganz klassischer Blindenberuf. Das hat dann nicht geklappt. Da wollten die mich in der Schule nicht allzu lange haben. Und dann bin ich auf das Angebot meines Betreuers in der Diplomarbeit zurückgekommen. Peter Hubwieser, der mir angeboten hatte, eine Doktorarbeit zu schreiben. Und so bin ich an die Uni zurückgekehrt. Und dann folgten die Doktorarbeit, Juniorprofessur und jetzt der Ruf nach Würzburg.

Matthias Klaus: Dann haben Sie eine Doktorarbeit geschrieben. Wovon handelte die?

Dino Capovilla: Die Doktorarbeit wollte ich eigentlich ursprünglich nicht über ein Thema schreiben, das mit Behinderung zu tun hat. Das war dann aber genau 2012, als ich angefangen habe. Und das war so diese Hochzeit der Debatten über Inklusion, die hochgekocht sind. Und so war auch in der dortigen Abteilung, wo ich gearbeitet habe, an der dortigen Professur immer wieder das Thema Inklusion im Kontext "Informatik" aufgekommen, also Informatikunterricht. Und ich habe dann die Anfragen bearbeitet und kam so schrittweise zum Thema "Informatikunterricht im Kontext Inklusion im Kontext gemeinsamer Unterricht". Und darüber habe ich dann promoviert, dass über "Konzepte wie sich Inklusion im gemeinsamen Unterricht im Zusammenhang mit Informatik realisieren lässt".

Matthias Klaus: Ging es da noch speziell um "blind und sehbehindert" oder allgemein um Inklusionspädagogik?

Dino Capovilla: Es ging dann sehr speziell auch um das Thema "Blindheit, Beeinträchtigung, Sehbehinderung". Das war dann schon der Fokus, der sich schrittweise herauskristallisiert hatte. Ich bin dann also doch dort gelandet, wo ich eigentlich nicht hinwollte, nämlich zu meiner eigenen Behinderung zu schreiben und zu forschen.

Matthias Klaus: Sie haben im letzten Jahr ein Buch veröffentlicht: "Behindertes Leben in der inklusiven Gesellschaft: Ein Plädoyer für Selbstbestimmung". Das klingt jetzt von außen gesehen erst mal nach "Disability Studies". Würden Sie sich dazurechnen oder sind Sie eine ganz andere Baustelle?

Dino Capovilla: Ich würde mich dazurechnen. Ich würde auch sagen, ich selbst betrachte Heil- Sonder- und Inklusionspädagogik aus der Perspektive der Behindertenbewegung. Da komme ich auch letztlich gar nicht umhin, es so zu tun. Als ich die Professur in Berlin, die Juniorprofessur in Berlin, bekommen habe, ging natürlich sofort der Diskurs los: "Na ja, das hat er bekommen, weil er selber behindert ist", und so weiter und so fort, und "von dem lässt sich eigentlich diese Selbstperspektive gar nicht trennen." Deshalb habe ich irgendwann auch versucht, das zur Tugend zu machen. Und beispielsweise in Würzburg fahren wir ganz klar die Linie, dass wir versuchen, diese beratend diagnostische Perspektive, die häufig dominant ist, in der Sonder- und Inklusionspädagogik zu kombinieren mit der selbst vertretenen Perspektive. Beispielsweise sind bei uns die Hälfte der Lehrenden selbst sehbeeinträchtigt und nehmen natürlich diese Perspektive dann auch in die Lehre und Forschung mit.

Aber ich selbst rechne mich ganz klar dieser kritischen Sichtweise den "Critical Blindness Studies" zu, die eben aus der Behindertenbewegung, aus den Disability Studies heraus die Fachdisziplin der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik oder eben Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens betrachten.

Matthias Klaus: Wie würden Sie sagen, steht es denn heute um die Inklusion an Schulen? Sind wir denn auf einem guten Weg oder kann das alles so gar nicht funktionieren? Es wird ja viel gestritten.

Dino Capovilla: Na ja, wir sind auf einem Weg und da hat sich einiges getan. Mein Buch thematisiert es ja ziemlich ausführlich. Dass es allerdings jetzt rein vom objektiven Blickpunkt - wenn wir die Zahlen nehmen - dann doch nicht ganz so schnell weitergegangen ist, wie sich das vielleicht viele erhofft haben. Und ob das gut oder schlecht ist, könnte ich jetzt auch so direkt nicht beantworten. Also ich denke, es hat sich vieles getan. Es hat sich insbesondere auch im Denken einiges getan. Wenn ich da an meine Kindheit und Jugend denke, wo es durchaus möglich war, dass Lehrkräfte gesagt haben: "Wir wollen keine Behinderten unterrichten“ oder Eltern sich auch geweigert haben, ihre Kinder mit Kindern mit Behinderung in eine Klasse zu schicken und das letztendlich salonfähig war, können wir durchaus sagen, das ist heute nicht mehr der Fall. Das ist durchaus etwas, was sich in Schulen verändert hat, aber auch außerhalb, dass wir uns gefahrloser in die Gesellschaft hineinbegeben können, ohne plakative Ablehnung zu erleben. Das - würde ich sagen - hat sich verbessert. Wir haben auch eine ganz andere Kultur bei Lehrkräften, die wir beobachten können. Man ist durchgehend engagierter, man hat eine Bereitschaft sich weiterzubilden. Man hat auch eine Bereitschaft, sich mit den Themen auseinanderzusetzen. Jedenfalls im Großen und Ganzen würde ich das so feststellen und das erleichtert es insbesondere bei Kindern, wenn wir das jetzt auf die Beeinträchtigung beziehen, mit leichten Beeinträchtigungen im klassischen Setting des gemeinsamen Unterrichts zu lernen. Wenn ich dort engagierte Lehrkräfte habe, wenn ich dort Pädagoginnen und Pädagogen habe, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, geht da richtig viel. Und das - würde ich sagen - hat sich verändert. Wenn wir die Erwerbstätigkeit anschauen, wenn wir das Berufsleben anschauen, wenn wir uns die Freizeit anschauen, dann ist da sicher noch sehr viel möglich, wie wir da noch weiterdenken und das weiterentwickeln können.

Matthias Klaus: Nehmen wir mal die Sinnesbehinderungen: leichte Sehbehinderung, ich bin ja selbst auch blind, ich kann mir ein bisschen vorstellen, wo so die Schwierigkeiten liegen können. Also leichte Sehbehinderung kann ich mir auch vorstellen, wenn Lehrkräfte engagiert sind. Aber wenn ich jetzt zum Beispiel Brailleschrift brauche, kann man jetzt von jedem Lehrer verlangen, dass er auch Brailleschrift können muss und dass die Materialien auch immer da sind? Da gibt es ja, glaube ich, schon einen relativ hohen Aufwand, der getrieben werden muss, um zum Beispiel einen wirklich blinden Menschen an einer inklusiven Schule unterrichten zu können. Ist das heute schon so, dass das funktioniert? Oder würden Sie sagen: "Da müssen wir aber noch an den und den Stellschrauben drehen?"

Dino Capovilla: Ich sage so: Wenn es funktioniert, kriegen wir davon meistens nichts mit. Wenn es nicht funktioniert, dann wird viel diskutiert, dann gibt es Streitigkeiten, dann tritt das zutage. Also ganz sicher gibt es Schulen, in denen das funktioniert, die von den Voraussetzungen her, ich sage jetzt mal, "entsprechendes Glück" haben, also von den Voraussetzungen, von den Lehrkräften, die zusammenarbeiten, von den Eltern, die entsprechendes Engagement mitbringen. Also dass sozusagen möglichst alle Bedingungen ideal sind, dann kann das sicher funktionieren.

Ich habe aber ganz bewusst von leichten Sehbehinderungen gesprochen, eben nicht von Blindheit, da Blindheit in vielen Punkten durchaus andere Konzepte und andere Herangehensweisen in der Didaktik erfordert. Ich selbst glaube tatsächlich, dass Förderung bei Blindheit, wenn eben primär Brailleschrift erworben werden muss als primäre Schriftsprache, dass Förderschulen dann durchaus ihren Sinn und Zweck haben. Auch wenn ich sagen muss, ich würde die Förderschule selbst transformieren in eine Art privilegierte allgemeine Schule, also ich würde weggehen von dem Konzept der Förderschule hin zu einer privilegierten allgemeinen Schule, die diese Privilegien wie kleine Klassen, wie eine bessere Ausstattung, wie Schwimmbad, wie Turnhallen, das, was viele Förderschulen mitbringen, eben haben. Und dann wären wir bei Ansätzen, wie sie beispielsweise hier in Würzburg oder in Stuttgart oder auch in Marburg inzwischen praktiziert werden, dass wir Schulen für Kinder ohne Behinderung öffnen. Und ganz plakativ gesagt, sollten Schulen so toll sein, also diese privilegierten allgemeinen Schulen, dass es möglichst lange Wartelisten gibt von Kindern, die keine Behinderung haben und die diese Schule besuchen möchten.

Insgesamt zu Braille glaube ich auch, dass es sehr viel mehr Kinder gibt, die Braille lernen würden, auch ohne die Beeinträchtigung. Und hier denke ich, könnte man überlegen, ob man Nachmittagsunterricht, also eine Art Nachmittagsschule einführt, in der Lernende, die sich zum Beispiel gemeinsam für Sprache interessieren, das zusammen lernen. Vielleicht von Beratungslehrkräften unterrichtet, die dann auch weiterhin, ich sage mal, in ihrer originären Tätigkeit als Lehrkraft bis zu einem gewissen Grade bleiben können, indem sie in diesen Nachmittagskursen Kinder unterrichten, die eine Sehbeeinträchtigung haben und Braille lernen möchten, zusammen mit Kindern, die keine Sehbeeinträchtigung haben, aber trotzdem Braille und Sprache auf diese Art und Weise kennenlernen möchten und ebenso gemeinsam lernen, also an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten, was ja immer das Ziel ist, wenn wir von Pädagogik sprechen.

Matthias Klaus: Ähnliche Forderungen gibt es ja auch bei Gehörlosigkeit, dass gesagt wird, man müsste zumindest allen die Möglichkeit geben, auch mal Gebärdensprache zu lernen und nicht nur zu sagen, das passiert auf Schulen, wo mindestens so und so viele gehörlose Menschen zusammen sind. Vorher lohnt sich das nicht.

Dino Capovilla: Naja. Mir geht es da eher um das Interesse. Ich glaube, dieses Verankern in der … also das ist von Ada Sasse, dieses Verankern in der eigenen Generation, das ist ja eine zentrale Aufgabe der Schule. Und das funktioniert, glaube ich, nicht rein durch das Zusammensein, wie oft behauptet wird. Das kann immer auch negative Folgen haben. Insbesondere bei blinden Kindern ist das oft zu beobachten im gemeinsamen Unterricht, dass die dann letztlich irgendwo isoliert sitzen und irgendwann in der Pause dann auch im Klassenraum bleiben. Also, das kann nicht das Ziel sein. Ziel muss es sein, dass wir Unterricht schaffen, den eben am Nachmittag, zum Beispiel im Außerschulischen auch, wo Lernende gemeinsam an Themen arbeiten, die sie beide interessieren. Das kann eben beispielsweise auch Technik sein. Es kann eben auch etwas zu Bewegung und Sport sein oder eben Sprache und Braille, wo eben dann Kinder, wo eben dann Lernende zusammen ein gemeinsames Ziel haben und sich nicht als direkt, als unmittelbar anders erleben. Dann glaube ich, gibt es so gemeinsame Ziele, dann können Freundschaften entstehen und dann kann diese Verankerung passieren. Wenn wir beispielsweise durchgehend eine Schulbegleitung neben das Kind setzen - ich sage das jetzt von ganz außen - also im Sinne, das Kind hat dann diese passive Rolle. Das finde ich alles andere als gut, weil wir dann wieder eine gewisse "segregative Blase" um das Kind schließen und letztlich oft nicht unbedingt die höchste pädagogische Qualifikation bei diesen Schulbegleitungen erwarten können. Also dann muss ich tatsächlich sagen, erscheint mir durchaus eine klassische Förderschule auch als die beste Option.

Matthias Klaus: Sie haben ja in Ihrem Buch auch nicht nur über Schule geschrieben, sondern über das allgemeine "Behindert sein", auch sehr viel zum Beispiel: "Wie funktioniert Ausgrenzung?" Sie verwenden den Begriff "behindert" und "unbehindert". Normalerweise kennt man immer "behindert" und "nicht behindert". Können Sie vielleicht ein bisschen erläutern, was Sie gerade an diesem Unterscheidungspaar attraktiv finden?

Dino Capovilla: Ich habe mich lange damit befasst, ob ich eben Behinderung als Teil meiner Identität sehe, was man auch in der Sprache sieht, da spricht man von "Menschen mit Behinderung" oder von "behinderten Menschen" und habe diese Entscheidung letztlich für mich selbst getroffen. Ich bin ja seit meiner Geburt sehbeeinträchtigt, habe letztlich auch nie mich selbst oder die Welt anders erlebt, habe einen deutlichen Sehverlust im Laufe meines Lebens erlebt, den ich jedoch selbst überhaupt nicht mitbekommen habe und ich kann auch sagen, dass mir meine Behinderung zwar von außen natürlich bewusst war. Also, die Menschen rund um mich herum haben schon in der Kindheit immer gesagt: "Du bist behindert" oder "Du siehst das nicht." Und da gab es viele Tränen, auch in der Familie und so weiter. Und ich war irgendwie da und dachte mir: Was geht denn da ab? Also, was machen die denn da alle? Was haben die denn? Und erst mit der Zeit entdeckte ich dann so für mich, so mit 12 oder 14 Jahren war das in etwa, entdeckte ich: Okay, du bist ja tatsächlich auf eine Art und Weise anders, die dich ausschließt, die dich ausgrenzt. Und das kann ich jetzt für mich sagen, ist damit Behinderung ganz klar meine Identität und deshalb "mit Behinderung", das würde ich nie für mich sehen. Ich würde so sagen: Es gibt eine bestimmte Andersartigkeit, die ich in mir trage, die dazu führt, dass ich in der Gesellschaft behindert bin, dass ich behindert werde. Und gleichzeitig gibt es Menschen, die natürlich auch auf ihre Art und Weise anders sind, die aber nach diesen verallgemeinerbaren Ansätzen, die es gibt, wie durch Barrieren, beispielsweise Behinderung, die durch Barrieren entsteht, eben "nicht behindert" sind. Und diese würde ich dann sagen, wenn wir das auf die Identität beziehen, eben nicht auf das, was wir hinzugeben, "mit Behinderung" und "ohne Behinderung", dann sind das in dem Sinne tatsächlich "unbehinderte" Menschen, also Menschen, die unbehindert durch die Welt gehen können, was natürlich ganz klar eine Überspitzung und Provokation sein soll.

Matthias Klaus: Es gibt ja verschiedene Modelle, wie man Behinderung versteht, gerade in der Wissenschaft als medizinisches Modell, soziales Modell, kulturelles Modell. Es gibt bestimmt noch ein paar mehr. Haben Sie da ein Lieblingsmodell, um zu verstehen, wie behinderte Existenz funktioniert?

Dino Capovilla: Ja, ein Lieblingsmodell nicht unbedingt, aber definitiv mag ich das "individuell-medizinische Modell" oder "Schicksalsmodell" oder wie auch immer wir das nennen wollen, überhaupt nicht. Da gefällt mir der Mechanismus im Hintergrund nicht, dass wir einfach sagen: Ja, bestimmte Interventionen, mit denen wir Menschen irgendwie 'reparieren können', 'passend machen können', also das lehne ich sehr deutlich ab. Ich finde auch das soziale Modell, das lange Zeit dominant war und das wir heute immer wieder hören, in vielen Punkten kritisch. Das erscheint mir eben auch invasiv, das erscheint mir auch übergriffig in vielen Punkten, weil es eben diese Identität aus dem Ganzen entfernt. Und deshalb würde ich tatsächlich [...] Und das kulturelle Modell ist in vielerlei Hinsicht auch unzulänglich, aber ich würde mich irgendwo zwischen dem sozialen und kulturellen Modell sehen, das wir eine Behinderung als etwas Seiendes begreifen, als etwas, das der Mensch in sich trägt, was aber möglichst nicht in Kategorien gebunden werden sollte, was auch diese Freiheit lässt, die das soziale Modell mit sich bringt, also dass sozusagen die Welt von außen irgendwie gewissermaßen böse ist, die einschränkt, also dass wir das auch weglassen. Und dass wir eben Behinderung als etwas Relatives und etwas Situatives begreifen. Also meine Behinderung ist relativ im Sinne, dass ich bestimmte Dinge besser tun kann, bestimmte Dinge weniger guttun kann und dass ich mich irgendwo entscheiden muss, wie ich dann was tue, um weniger Behinderung zu erleben. Und natürlich ist sie auch situativ. Der Tag hat 24 Stunden. Ich vermute mal, situativ erlebe ich Behinderung in 10 bis 20, bis 30 Minuten. Es hängt ein bisschen vom Tag ab. Wenn ich an Mobilitätseinschränkungen stoße, dann ist das natürlich häufiger der Fall. Wenn ich aber in aller Ruhe im Liegestuhl liege und zum Mittagstisch gehe, dann erlebe ich eigentlich kaum Behinderung. Dass es situativ und dass es relativ ist, das ist mir wichtig zu betonen. Und da sind wir irgendwo Richtung kulturelles Modell und eben nicht im sozialen Modell, wo das allgemein wird, dass das von außen kommt.

Matthias Klaus: Das soziale Modell, da komme ich immer noch so halbwegs mit: "Die Umwelt ist, was mich behindert." Um es mal ganz grob zusammenzufassen, können Sie das kulturelle Modell in drei schönen, einfachen Sätzen jetzt für mich und vielleicht auch Menschen, die hier zuhören, erklären, wie das funktioniert? Das ist ja das Neueste von denen [diesen Modellen].

Dino Capovilla: Das ist eine Herausforderung. In der Vorlesung stoßen, glaube ich, viele meiner Studierenden auch an diese [...] Na ja! Versuchen wir es!

Matthias Klaus: Ja!

Dino Capovilla: Das "Sosein" von Menschen ist letztlich immer Teil der Kultur, in der man lebt. Also Kultur bestimmt das, wie wir uns erleben und wir bestimmen gleichzeitig Kultur mit, wie wir uns erleben. Damit ist eben Behinderung Teil einer Kultur, wie sie existiert und wie sie ist. Und wir können die eben dann nicht durch bestimmte Maßnahmen, durch bestimmte Interventionen aus der Kultur heraus entfernen. Also es bleibt immer etwas Individuelles übrig, das den Menschen zu etwas Besonderem macht.

Auf der anderen Seite haben wir jetzt aber auch kulturell gewachsene Barrieren, die Menschen auf ganz unterschiedliche Art und Weise einschränken. Am einfachsten könnte man das so sehen, dass es beispielsweise auf einer Autobahn keine Stufen gibt. Das hat ja durchaus einen Sinn. Wenn es da nämlich Stufen geben würde, dann würden Autos da auch nicht fahren können. Und das würden wir eben auch als kulturell gewachsenes Moment sehen. Und beispielsweise bei Restaurants in Altstetten hat es irgendwann mal einen Sinn gehabt, dass die Restaurants mit Stufen abgesetzt sind, dass das Wasser da nicht reinläuft. Und aus dem Grund ist das kulturell gewachsen. Und wenn wir jetzt eben im kulturellen Modell Behinderung denken, wenn wir im kulturellen Modell Barrieren denken, dann würden wir sagen: Die können wir abbauen, indem wir unsere Kultur reflektieren, indem wir die Bestimmtheit der Kultur reflektieren, wie sie ist, und versuchen auf diesem Weg dann durch das Überdenken der Kultur diese Barrieren abzubauen. Soll ein bisschen heißen, es wird uns nicht gelingen, dass wir uns hinstellen und jetzt das perfekte Gebäude, das komplett barrierefrei ist, für alle Menschen entwerfen. Das ist eine Herausforderung und wird wahrscheinlich auch nicht ganz so einfach gelingen. Es soll sehr viel mehr in die Richtung gehen, dass wir so eine Art Kultur des Willkommenseins, dass wir so eine Art Behinderungssensibilität entwickeln, die Menschen darin involviert, dass sich alle letztendlich bemühen, dass alle ihren Platz finden, dass alle willkommen sind, dass alle dabei sein können. Und das ist ja häufig erfahrungsgemäß auch sehr viel mehr wert, dass wir Menschen haben, die ein Bewusstsein, ein bestimmtes Gespür dafür haben: Was könnten wir jetzt tun? Wann muss ich jetzt nachfragen? Wann könnte ich nachfragen, ob jemand Unterstützung braucht? Und das dann auch bietet.

Matthias Klaus: Sie schreiben auch in Ihrem Buch darüber, wie Ausgrenzung, Unterscheidung funktioniert, dass das irgendwie eine Art nicht natürlicher, aber zumindest ein gegebener Prozess ist, dass Menschen sich mit Gleichem umgeben und dass jemand, der unterschiedlich ist, ausgegrenzt wird. Das ist ja etwas, was es auch heute noch gibt. Und alles, was wir hier tun, arbeitet dagegen. Wie kann man das gesellschaftlich so regeln, dass diese Ausgrenzungsgeschichten, zu denen menschliche Gruppen ja neigen, nicht mehr so wichtig werden? Schwer philosophisch gefragt, aber es interessiert mich einfach mal, ob Sie da eine Meinung zu haben.

Dino Capovilla: Ich glaube nicht, dass es geht. Ich glaube, dass wir uns damit arrangieren müssen. Wir haben da, wie vorher bereits gesagt, große Fortschritte gemacht, dass wir in vielen Punkten unbehelligt leben können. Also die Anzahl der dummen Sprüche, glaube ich insgesamt, hat abgenommen. Wir können so in vielen Punkten leben. Insgesamt glaube ich aber den Menschen, so ungefähr wie er heute ist, gibt es von seiner Disposition seit 200.000 Jahren. Und meine Zuversicht ist gering, dass wir in diesen 70, oder dass ich jetzt in diese 70 Jahre hineingeboren bin, wo tatsächlich hier der wesentliche Groschen fällt und die Welt sich ändern wird. Also ich glaube, das sitzt ganz tief in uns Menschen. Das ist kulturell sehr, sehr mächtig. Ich glaube nicht, dass das so gehen wird. Wir können versuchen, uns zu arrangieren. Wir können versuchen, aus der Gegebenheit heraus Lösungen zu finden. Allerdings, insgesamt muss man einfach sagen, es gibt vielleicht 20 Prozent der belebten Erdoberfläche, wo wir heute ein bestimmtes Bemühen, ein bestimmtes Verhalten nach sozialer Erwünschtheit erwarten können, die das Leben erleichtert. Aber eben der Großteil der bewohnten Erdoberfläche ist lange nicht dort, wo wir diesbezüglich in beispielsweise Zentraleuropa leben. Also da ist meine Zuversicht sehr gering. Ganz plakativ: So kann ich mich natürlich als Pädagoge nicht zufriedengeben. Das liegt schon auf der Hand.

Matthias Klaus: Sie wollen die Welt ja besser machen?

Dino Capovilla: Ja, und ich glaube, es ist wichtig, dass wir versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden. Ich glaube beispielsweise, eine zentrale Stärke sehbeeinträchtigter Menschen, blinder Menschen ist ihre Sprache. Also Sprache ist unser Talent. Sprache ist unsere Stärke. Und wenn wir eben versuchen, auf diesem Weg Menschen zu verbinden, Menschen zusammenzubringen, dass sie gemeinsame Ziele haben, dass sie gemeinsam lernen, sodass es eben nicht nur dieses Zusammensein ist, dann kann es sein, dass Freundschaften entstehen, dass Gemeinsamkeiten entstehen und dass dann Menschen tatsächlich zueinander finden. Es bleibt dann aber immer etwas Partikulares an den kulturellen Gegebenheiten, wie man mit dem Anderssein umgehen darf. Es fehlt mir tatsächlich die Fantasie, wie sich das verändern sollte.

Matthias Klaus: Sie sind ja auch ein behinderter Mensch. Ich auch. Manchmal hat man ja so Momente, wo man denkt: Das ist doch alles Mist hier, und das muss jetzt aufhören und ich will das nicht. Haben Sie eine Idee oder so etwas wie einen Ratschlag? Wie kann man da raus? Wie kann man es machen, dass man nicht zum einen nur denkt: Ach, die ganze Umwelt ist blöd oder zum anderen: Ich tauge nichts. Und was? Es gibt ja 1000 Methoden, sich das Leben schwer zu machen, wie man das überwinden kann, dieses berühmte "Akzeptieren der Behinderung" oder "Annehmen der Behinderung"? Gibt es da irgendwelche Möglichkeiten, die Sie als einer, der sich wissenschaftlich damit beschäftigt, sehen und die so jemand, der so durch den Tag lebt wie ich, vielleicht gar nicht mal mitkriegt?

Dino Capovilla: Da habe ich keine Lösung. Also mir geht das auch so, wenn man dann irgendwo steht und im falschen Bus sitzt und sich tierisch ärgert und die Haltestelle nicht findet. Oder es gibt 100 Situationen. Bei mir haben die meisten dieser Situationen mit Mobilität zu tun. Da wüsste ich keinen Ausweg. Ich würde natürlich schon sagen, also was ich bei mir versuche zu machen, ist so eine Trennung aus den Rollen "des Behinderten" und "des Behinderers". Das kann manchmal helfen, dass man eben - glaube ich jedenfalls - dass das helfen kann, dass man sich selbst in dieser Rolle sieht. Also beispielsweise am Arbeitsplatz, in der Schule usw., da ist man diese behinderte Person, die natürlich Gegenstand der Bemühungen ist, die Gegenstand der Aufmerksamkeit ist. Man schreibt zum Beispiel Artikel über den behinderten Professor. Und so weiter und so fort. Also, da ist man Gegenstand dieser Aufmerksamkeit als behinderte Person. Aber im anderen Moment hat man natürlich auch Bedürfnisse und Forderungen, die man einfordert, wo man zum "Behinderer" wird. Also, man wird für andere Menschen zu dem, was man selbst erlebt, dass man Dinge einfordert, die nicht so einfach umsetzbar sind, die nicht so einfach realisierbar sind und das dann auch stört, also in seinem Wesen. Und das schafft vielleicht etwas Nachsicht, wenn man die Nachsicht überhaupt aufbringen will, für Menschen, die aus der Perspektive der behinderten Person zu wenig zum Abbau von Barrieren beitragen, wenn man diese Trennung macht. Das ist aber auch nur ein Mittel, um es zu ertragen. Die Welt macht das natürlich nicht besser.

Matthias Klaus: Noch mal zum Schluss kurz gefragt: Inklusion. Es gibt ja die erbitterten Gegner, die sagen: Das ist alles viel zu umständlich, das klappt nie! Und dann gibt es die vielleicht aktivistische Position: Einfach mal Förderschulen abschaffen, das kriegen wir dann schon? Das haben Sie selber zitiert in Ihrem Buch. Wie stehen Sie dazwischen? Lässt sich zwischen diesen Positionen vermitteln? Am Ende geht es ja auch um Geld, das investiert werden muss. Wie kriege ich unsere Kultusministerkonferenz dazu, die Sache so zu fördern, dass wir alle was davon haben?

Dino Capovilla: Also, was ich ganz ablehne, ist, dass wir "einfach die Förderschulen schließen, und dann wird sich das schon irgendwie arrangieren". Das kann nicht der Weg sein. Ich sehe auch überhaupt nicht […] Ich sehe keinen Grund dafür, dass wir sagen: Wir müssen etwas verändern und wir können nur etwas verändern, indem wir das Alte vollkommen überwinden. Das kann kein Weg aus dem Ganzen sein.

Ich würde bei einem Mittelding bleiben, und das trifft, glaube ich, vor allem für Menschen, die lebensbestimmende Behinderungen haben zu, und auf Menschen mit lebensbestimmenden Behinderungen. Da würde ich tatsächlich blinde Menschen, also sehbeeinträchtigte Menschen insgesamt dazuzählen oder auch Menschen mit geistiger Behinderung oder hörbeeinträchtigte Menschen gegebenenfalls. Also es gibt viele Räume, es gibt viele Lebensentwürfe, in denen Menschen mit lebensbestimmenden Behinderungen gemeinsam zusammenleben können, in denen sie auch gut leben. Also beispielsweise, wenn ich an das Blindenzentrum in Bozen denke, in dem ich ja viel Zeit verbracht habe, auch in meiner Jugend. Also, das ist ein Ort, wo Menschen mit Sehbeeinträchtigung gemeinsam leben können, gemeinsam Zeit verbringen können, Gleiche unter Gleichen sind. Und diese Orte würden verschwinden, wenn wir einfach radikale Schritte unternehmen, um jede Form der Segregation aufzuheben. Ich verwende auch den Begriff der "Exklusivität", also dass man deshalb als "Exklusives", etwas "Besonderes" betrachtet, dass man in diesen Formen leben kann. Und so würde ich das auch mit Schulen sehen. Menschen mit Behinderungen können sich gegenseitig schlicht und einfach viel geben. Als Lösungsansatz selbst würde ich weiterhin beim Konzept der privilegierten Allgemeinen Schule bleiben, also dass wir das Versuchen zu verbinden, dass wir eine Schule für Kinder mit Behinderung konzipieren und die eben für Kinder ohne Behinderung öffnen, um eben weiterhin diese spezifischen Inhalte aufrecht zu erhalten. Aber eben auch diese Kontaktmöglichkeiten sicherzustellen, die Menschen mit Behinderung untereinander benötigen.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" schon fast für heute. Heute mit Dino Capovilla von der Universität Würzburg, Heil-, Sonder- und Inklusionspädagoge. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie uns in vielleicht manchmal auch etwas komplizierte Dinge hier Ihren Einblick gegeben haben und hoffe natürlich, dass die Ideen, die Sie haben, auch in die Wirklichkeit umgesetzt werden können.

Herr Capovilla, vielen Dank, dass Sie für uns Zeit hatten.

Dino Capovilla: Ich danke Ihnen.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias Klaus.

Sprecher: Mehr folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hier findet man eine Zusammenstellung von Dino Capovillas Veröffentlichungen

Dieses Transkript wurde zum Zwecke der Barrierefreiheit unter Nutzung einer Spracherkennungs-Software erstellt und danach auf offensichtliche Fehler hin korrigiert. Es erfüllt nicht unsere Ansprüche an ein vollständig redigiertes Interview. Wir danken für das Verständnis.

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