Innenministerium widerruft Aufnahmezusagen für Afghanen
10. Dezember 2025
Den Menschen in zwei Aufnahmeprogrammen wird in den nächsten Tagen mitgeteilt, "dass kein politisches Interesse an ihrer Aufnahme mehr vorliegt". Mit diesen dürren Worten kündigte die Sprecherin des Bundesinnenministeriums, Sonja Kock, an, dass 640 Afghaninnen und Afghanen nicht kommen dürfen. Sie hatten bislang in Pakistan auf ihre Ausreise nach Deutschland gewartet. Es handelt sich um Menschen, die Verfolgung und Repressalien des Taliban-Regimes in Afghanistan fürchten müssen - und die bisher eigentlich eine Aufnahmezusage der Bundesregierung hatten.
Die wird nun widerrufen, weil die schwarz-rote Regierungskoalition in Berlin die Aufnahmeprogramme "soweit wie möglich" beenden will. So hatten es die konservativen Parteien CDU, CSU und die Sozialdemokraten in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Die Versprechen zur Aufnahme von Frauenrechtlerinnen, Anwälten, Journalisten und anderen Oppositionellen über die "Menschenrechtsliste" und die "Überbrückungsliste" aus Afghanistan hatte die vorige Bundesregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen gegeben. Diese Zusagen, die nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban in Afghanistan 2021 gemacht wurden, hält Bundesinnenminister Alexander Dobrindt heute für "Altlasten", die er abarbeiten müsse.
Auch Ortskräfte betroffen
Zum ersten Mal ist auch das dritte Aufnahmeprogramm für Ortskräfte betroffen. In der vergangenen Woche haben zum ersten Mal Ortskräfte und ihre Familien, die direkt für deutsche Ministerien oder die Bundeswehr in Afghanistan gearbeitet haben, eine für sie niederschmetternde E-Mail bekommen, so die Hilfsorganisation "Kabul-Luftbrücke". Eva Beyer, Sprecherin der Kabul-Luftbrücke sagte der Deutschen Welle, dass rund 130 Menschen, die Zusagen aus dem Ortskräfte-Programm der Bundesregierung hatten, mitgeteilt wurde, sie werden nicht mehr aufgenommen.
Verschickt hat die E-Mail die bundeseigene Entwicklungshilfeagentur GIZ. Ihr entscheidender Satz lautet: "Nach einer weiteren detaillierten Prüfung wurde beschlossen, dass die Grundlage für eine Aufnahmezusage für Deutschland nach §22 des Aufenthaltsgesetzes nicht besteht." Ein konkreter Grund für den Widerruf wird in dieser Nachricht nicht genannt. Die Sprecherin des Innenministeriums in Berlin, Sonja Kock, bestätigte, dass sich damit nur noch 90 der verbliebenen 220 Ortskräfte auf eine Aufnahmezusage berufen können.
Innenminister will sich an Zusagen für Ortskräfte halten
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) selbst hatte von diesen Vorgängen allerdings noch keine genaue Kenntnis, als ihn die Deutsche Welle auf die Ortskräfte ansprach. "Ich habe dazu einen Bericht gelesen, den ich nicht hundertprozentig einordnen kann, aber mein Haus gebeten habe, mir eine Einordnung heute zur Verfügung zu stellen." Dobrindt versicherte auf eine Frage der DW aber: "Es hat keine Änderung meiner Entscheidung gegeben, die ich seit längerem immer wieder deutlich gemacht habe. Da, wo wir rechtsverbindliche Aufnahmezusagen haben, werden wir die auch erfüllen. Bei sogenannten Ortskräften da sehen wir uns in einer fortlaufenden Verantwortung." Voraussetzung für eine Aufnahme sei aber eine bestandene Sicherheitsüberprüfung.
Nach Angaben der Bundesregierung hat Deutschland seit dem Machtwechsel in Afghanistan 2021 bis April 2025 insgesamt 4000 Ortskräfte und fast 15.000 Familienangehörige aufgenommen. Die Gruppe, die jetzt noch in Pakistan ausharrt, ist also relativ klein.
Große Unsicherheit im Bundesaufnahmeprogramm
Da die pakistanischen Behörden damit drohen, vom Jahreswechsel an, Afghaninnen und Afghanen, die sich noch in deutschen Gästehäusern in Pakistan aufhalten, dem Taliban-Regime auszuliefern, wird die Zeit äußerst knapp. Zwar hatte die Bundesregierung seit Amtsantritt einige Hunderte Menschen aus Pakistan nach Deutschland geholt, aber neben den bereits angesprochenen besonders gefährdeten Ortskräften warten noch circa weitere 1000 Afghanen und Afghaninnen auf ihre Ausreise ins sichere Deutschland.
In der vierten Möglichkeit zur Aufnahme, dem Bundesaufnahmeprogramm, hatten sie Zusagen für ihre Übersiedlung bekommen. An diese Zusagen fühlt sich Bundesinnenminister Alexander Dobrindt schon seit einigen Monaten nicht mehr gebunden. Nur Menschen, die erfolgreich vor deutschen Verwaltungsgerichten auf Einhaltung der Aufnahmezusagen geklagt haben, werden noch ausgeflogen.
Nach Angaben der Hilfsorganisation Kabul-Luftbrücke, die Anwälte an Afghanen vermittelt, waren bislang 84 Klagen erfolgreich, weitere 195 sind anhängig. Dutzende weitere Klagen werden vorbereitet. Ob diese Verfahren noch vor Jahresende abgeschlossen werden können, ist sehr fraglich. "Das ist eine unfassbare Unsicherheit, in der sich die Menschen zum Teil seit Monaten zum Teil auch schon seit Jahren befinden. Diese Ungewissheit ist allein schon psychische Folter", meint Eva Beyer von Kabul-Luftbrücke zur Lage der Menschen, die in Pakistan auf ihre Ausreise hoffen und mit denen Beyers Organisation in Kontakt steht.
Im Bundesaufnahmeprogramm wurden im Laufe von vier Jahren rund 3500 Zusagen erteilt. Das Programm war hauptsächlich für Aktivisten und bestimmte Berufsgruppen gedacht, die nach der Machtübernahme der islamistischen Taliban gefährdet waren. Kandidatinnen und Kandidaten für dieses Programm mussten von deutschen Nichtregierungsorganisationen oder Hilfsorganisationen vorgeschlagen werden.
Protestbrief von Hilfsorganisationen
250 Organisationen, darunter Human Rights Watch, Pro Asyl und Brot für die Welt, haben Bundesinnenminister Dobrindt in einem offenen Brief aufgefordert, die gefährdeten afghanischen Familien vor Jahresende unbürokratisch nach Deutschland zu holen. Helen Rezene, Co-Geschäftsführerin von Pro Asyl, nannte die Rettung aller Menschen mit Aufnahmezusage den "Lackmustest für Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit und Humanität der Bundesregierung".
Sonja Kock, Sprecherin des Innenministeriums, sagte in Berlin, die Menschen würden zumindest nicht sofort obdachlos. Sie könnten in den angemieteten Gästehäusern in Pakistan bleiben, solange die Landgrenze zwischen Afghanistan und Pakistan geschlossen bleibe. Die Bundesregierung bietet auch an, Flüge in die afghanische Hauptstadt Kabul zu buchen. Doch was würde, die Menschen, die ja nicht ohne Grund vor den Taliban geflohen sind, dort erwarten?