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Literatur

Internationaler Literaturpreis: Die sechs Finalisten

Sabine Peschel12. Mai 2016

Vielsprachig und in allen Weltgegenden bewandert, so präsentieren sich die Nominierten. 6 von ursprünglich 151 Titeln sind preisverdächtig: das grandiose Epos, die Wutrede oder doch die experimentelle Prosa?

Internationaler Literaturpreis 2016 Die Shortlist-Titel Copyright: DW/S. Peschel
Bild: DW/S. Peschel

2015 hatte der vom Haus der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementarteilchen vergebene Internationale Literaturpreis mit Amos Oz einen prominenten und bereits vielfach ausgezeichneten Preisträger. In diesem Jahr darf man gespannt sein: Die Shortlist, die das Haus der Kulturen der Welt am Mittwoch (18.05.2016) bekannt gab, umfasst sechs Romane in deutscher Übersetzung.

Die in der Mehrzahl eher jungen Autorinnen und Autoren zählen hierzulande – anders als in den Sprachen, in denen sie schreiben – noch nicht zu den ganz großen Namen. Trotzdem sorgten ihre Werke nach ihrem Erscheinen im Laufe der letzten zwölf Monate für Aufsehen im deutschsprachigen Feuilleton. In seiner achten Auflage ist der Internationale Literaturpreis zu seiner ursprünglichen Entdeckerlust zurückgekehrt: Bemerkenswert sind Kreativität und Potenzial, das formale Experiment, Vielseitigkeit wie auch literarisches Engagement im Sinne einer politischen Infragestellung.

Zwischen Sprachen, Kulturen und Systemen

"Die diesjährige Shortlist versammelt Erzähltexte, deren Autor*innen und Figuren allesamt ungefestigt zwischen Sprachen, Kulturen und Systemen leben", fasste die siebenköpfige Jury das Ergebnis ihrer Arbeit zusammen. Gewürdigt wird mit dem Internationalen Literaturpreis jedes Jahr nicht nur die Arbeit der Autoren, sondern auch die der Übersetzerinnen und Übersetzer. In diesem Jahr wird deren wichtige Sprachkunst auch finanziell deutlicher höher bewertet. Wenn der "Internationale Literaturpreis für übersetzte Gegenwartsliteraturen" (ILP), wie die Auszeichnung korrekterweise benannt ist, am 25. Juni im Rahmen eines Lese- und Diskussionsfestes in Berlin überreicht wird, teilen sich Autorin und Übersetzer die Preissumme von 35.000 Euro im Verhältnis vier zu drei.

Johannes Anyuru: "Ein Sturm wehte vom Paradiese her"

Außergewöhnlich ist gleich der erste Titel, den die Jury in die vorentscheidende Auswahl aufgenommen hat: ein Debütroman des 37-jährigen schwedischen Autors Johannes Anyuru. Sein Buch "Ein Sturm wehte vom Paradiese her" ist inspiriert von der Lebensgeschichte seines Vaters, der als ugandischer Flüchtling zum unfreiwilligen Wanderer zwischen den Welten wurde. Von der menschengemachten Hölle im Uganda des Diktators Idi Amin gerät er ins kühle Paradies Schwedens, wo Gelassenheit häufig als Gleichgültigkeit erfahren wird. Sein Schicksal sei mit kunstvoller Strenge beschrieben, deren Sog man sich kaum entziehen könne, urteilte die Jury: "Johannes Anyuru aber hat kein anklagendes Pamphlet geschrieben, sondern eine individuelle Biographie sichtbar und unvergesslich gemacht. Was vermag Literatur mehr?"

Joanna Bator: "Dunkel, fast Nacht"

Joanna Bator hat die letzten Monate als Stipendiatin des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin verbracht, war Gast bei den größten deutschsprachigen Literaturfestivals, trat auf den Buchmessen auf und war bereits 2011 unter den Finalisten des ILP. Die 48-jährige Polin ist also in Deutschland längst kein Geheimtipp mehr. Ihr neuer Roman "Dunkel, fast Nacht" könnte sie noch sehr viel bekannter machen. Er erzählt eine unheimliche Familiengeschichte, die auch mit der deutschen Geschichte des schlesischen Landstrichs, in dem der Roman spielt, verwoben ist. Das vielschichtige Buch ist gleichzeitig Schauergeschichte, Liebes-, Historien- und Gegenwartsroman. "Bator hat eine wilde, labyrinthische Phantasie, die die tausend Spuren und Erzählfäden immer neu verknüpft und schwebend im Spiel hält", würdigte die Jury den Roman. Die deutsche Fassung von Lisa Palmes liest sich geradezu süffig.

Alexander Ilitschewski: "Der Perser"

Alexander Ilitschewski wurde 1970 in Aserbaidschan geboren. Er ging als Jugendlicher nach Moskau, studierte dort Theoretische Physik, arbeitete in Israel, den USA und in Russland. 1996 begann er zu schreiben, publizierte Erzählungen, Essays und Romane. Seit 2013 lebt er als Schriftsteller in Tel Aviv. Sein für den Preis nominiertes Hauptwerk "Der Perser" ist so breit und facettenreich wie der nomadische Lebensweg seines Verfassers. Einen "reißenden Ölfluss ohne Ufer", nannte das die Jury. Der über 700 Seiten lange Roman erzählt "ungebärdig und stets überraschend" von zwei Freunden in der Ölregion um das aserbaidschanische Baku. Ilja, ein Geologe, der das schwarze Gold unter der Erde zu hören vermag, kehrt auf der Suche nach seiner Frau aus den USA zurück und trifft unter kämpferischen Naturschützern den Jugendfreund und religiösen Denker Hasem. Ilitschewski habe ein "zerklüftetes Porträt einer so peripheren wie globalen Weltgegend" geschaffen – ein großes Kaukasus-Epos.

Valeria Luiselli: "Die Geschichte meiner Zähne"

Auch die mexikanische Schriftstellerin und Journalistin Valeria Luiselli gehörte schon 2013 zu den Nominierten. Sie ist mit 32 Jahren die jüngste Autorin auf der Shortlist – und vielleicht auch deshalb die experimentierfreudigste. "Die Geschichte meiner Zähne" heißt ihr Buch, das zwischen Philosophie, literarischer Satire, Essay, Anekdote und "dentaler Biographie" changiert. Der Band, so behauptet das Nachwort, sei in Zusammenarbeit mit Arbeitern der Saftfabrik Jumex in Mexico City entstanden, und seine Texte und Bilder formen zusammen alles andere als einen herkömmlich erzählten Roman: "Die Autorin zeigt anhand der Geschichte der Zähne des Mexikaners Gustavo Sanchez Sanchez, mit Rufnamen Carretera (dt. Autobahn), dass die Vorführung von Erzählprinzipien durchaus leidenschaftlich und nicht bloß verbissen sein kann." Sie hätten viel gelacht, erzählen einige Jurymitglieder.

Shumona Sinha: "Erschlagt die Armen!"

Auch bei Shumona Sinhas Roman mit dem von Baudelaire entliehenen Titel "Erschlagt die Armen!" schwingt Humor mit, aber bei der Lektüre bleibt einem schon das leiseste Lachen im Halse stecken. "Ich brauche den Humor, um meinen Text erträglicher zu machen", erzählte Sinha bei einer Lesung im Kölner Institut Français. Als ihr episodischer Roman über eine Dolmetscherin in einer französischen Einwanderungsbehörde 2011 in Frankreich erschien, verursachte er auch jenseits der Literaturkritik einen regelrechten Aufruhr in den Medien, denn er erzählt schonungslos, wertend und nicht dokumentarisch von einer Maschinerie, in der keiner der Beteiligten eine Chance auf Gerechtigkeit hat. Von den "Märchen der menschlichen Zugvögel", wie die in Kalkutta geborene, inzwischen Französin gewordene Autorin es selber beschrieb. Sinhas Reflexionen zu Entfremdung, Asylsystem und Vermittlern sind einzigartig und aktuell: "Ich wollte meine Landsleute aufrütteln. Sie tun etwas Schreckliches. Sie werfen sich den Weißen vor die Füße", erklärte die 43-Jährige ihre Wut, die sie in einen rauen Text voller literarischer Widerhaken übertrug.

Ivan Vladislavić: "Double Negative"

"Double Negative", doppelte Verneinung oder Doppelbelichtung, lautet der sechste Titel auf der Nominiertenliste. In Ivan Vladislavićs "vielfach verspiegeltem" Roman geht es um Südafrika in den 1980er Jahren, um die Apartheid, die Frage, was die Wahrheit ist, um Fotografie. Der Erzähler kehrt nach den ersten freien Wahlen aus London zurück, um die Veränderungen in Augenschein zu nehmen. Was hat sich wirklich verändert? Teju Cole, mit "Open City" ILP-Preisträger von 2013, erklärt in seinem Vorwort: "Im Grunde geht es im Roman um die Begegnung zweier großer Intellektueller in schrecklicher Zeit." Und um Gefühle – ohne jeden Kitsch und jede Sentimentalität. "Dem südafrikanischen Essayisten und Schriftsteller gelingt das Kunststück, große Themen der Zivilisationsgeschichte mit moralischen und ästhetischen Fragestellungen zu einer bedeutenden Erzählung über die Zeit während und nach der Rassentrennung zu verknüpfen", analysierte die Jury. "Ein literarisches Meisterwerk."

Die Nominierten im Überblick:

Johannes Anyuru: "Ein Sturm wehte vom Paradiese her", aus dem Schwedischen von Paul Berf, Luchterhand Literaturverlag 2015 (En storm kom från paradiset, Norstedts, Stockholm 2012)

Joanna Bator: "Dunkel, fast Nacht", aus dem Polnischen von Lisa Palmes, Suhrkamp Verlag 2016 (Ciemno, prawie noc, W.A.B., Warschau 2012)

Alexander Ilitschewski: "Der Perser", aus dem Russischen von Andreas Tretner, Suhrkamp Verlag 2016 (Pers, Astrel, Moskau 2010)

Valeria Luiselli: "Die Geschichte meiner Zähne", aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz,Verlag Antje Kunstmann 2016 (La historia de mis dientes Editorial Sexto Piso, Mexiko 2014)

Shumona Sinha: "Erschlagt die Armen!", aus dem Französischen von Lena Müller, Edition Nautilus 2015 (Assommons les pauvres!, Editions de l'Olivier, Paris 2011)

Ivan Vladislavić: "Double Negative", aus dem Englischen von Thomas Brückner, A1 Verlag 2015 (Double Negative , Umuzi, Kapstadt 2010)

JuryarbeitBild: HKW/Jacob Teich

Das Preisträger-Duo wird am 14.06. bekanntgegeben.

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