"Sie hatte die Begabung, den Menschen im Bild zu erfassen"
Susanne Spröer 16. September 2016
Die Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer war eine der ersten Frauen, die in der Weimarer Republik ein eigenes Atelier eröffneten. DW-Redakteurin Susanne Spröer sprach mit ihrer Tochter Christiane von Königslöw.
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Christiane von Königslöw (geb. 1940) ist die jüngste Tochter der Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer, deren Bilder in der Ausstellung “Entdeckungen – Photographien 1922 bis 1975“ im Käthe Kollwitz Museum in Köln gezeigt werden. Ihr Vater Sigmund Kretschmer war Bildhauer. Beide führten schon in den 20er Jahren eine moderne Ehe: Die Mutter ernährte mit ihrem Atelier die Familie, der Vater kümmerte sich um die Kinder.
Deutsche Welle: Die Fotos Ihrer Mutter sehen so aus, als habe es viel Vertrauen zwischen den Porträtierten und der Fotografin gegeben. Wie hat sie das gemacht?
Wenn ein Kunde hereinkam, hat sie ihn als Mensch erfasst. Sie hatte eine große Liebe zu Menschen, hat sie warmherzig aufgenommen. Dann waren sie auch nicht mehr so aufgeregt. Meine Mutter schrieb dazu mal: "Ich wollte den Menschen so darstellen, wie er sich gerade gibt. Ich wollte ihn herauslösen aus dem Allgemeinen und versuchte, seine Eigenart zu erfassen. Dabei interessierten mich diejenigen am meisten, die meinten, sie seien nicht fotogen." Sie hat eine kurze Momentaufnahme gemacht, keinen Schnappschuss, eine Momentaufnahme. Und da ist über das Gesicht eben das Wesen dieses Menschen herübergehuscht.
Sie hat sie also in einem Moment fotografiert, wo sie sich noch nicht in Pose gesetzt hatten?
Ja, oder sie hat sie wieder da herausgelöst. Ich hab ja auch 20 Jahre mitgearbeitet und Aufnahmen gemacht, aber so gut wie sie habe ich das nicht gekonnt. Sie ist dann ein bisschen mit ihren Apparat gerückt und hatte dann einen anderen Blickwinkel, aus dem dieser Mensch vorteilhaft aussah. Sie hat eben die Begabung gehabt, den Menschen gleich im Bild darzustellen. Sie sah das als Bild und hat das auch als Bild komponiert.
Die Fotos aus den 20er Jahren wirken sehr modern. Ihre Eltern lebten auch ein sehr modernes Familienbild: Ihre Mutter war Alleinverdienerin, Ihr Vater kümmerte sich um Sie und Ihre drei Geschwister. Wie haben sie ihn erlebt?
Ich habe das gar nicht als etwas Besonderes gesehen, er war eben für uns Kinder da, er hat uns wunderbar ins Leben eingeführt. Ins Künstlerische (er war Bildhauer, Anm. d. Red), wir sind aber auch in den Wald gegangen. Und er hat gekocht. Er war eigentlich so, wie man sich das von einem guten Kindergärtner wünscht. Ich bin ja auch Kindergärtnerin geworden und muss sagen, von meiner Mutter habe ich mehr das Moralische und von meinem Vater das Künstlerische und den wunderbaren Bezug zur Natur. Von meiner Mutter habe ich auch das Fördern. Auch in meiner Pädagogik: Ich stopfe nicht in den Menschen hinein, sondern ich lasse es kommen. Denn da ist ganz viel drin, ganz viel Schönes drin.
Die "Neuen Frauen" der Weimarer Republik
Die Fotografin Annelise Kretschmer war eine der ersten Frauen, die in der Weimarer Republik ein eigenes Atelier eröffneten. Eine Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Museum zeigt ihre magischen Porträts.
Bild: Christiane von Königslöw
Annelise Kretschmer - Fotografin und Geschäftsfrau
26 Jahre alt ist Annelise Kretschmer, geborene Silbereisen, als sie 1929 im zweiten Stock ihres Elternhauses in Dortmund ein Fotoatelier eröffnet - als eine der ersten Frauen in Deutschland. "Ich wollte eine Familie, aber zugleich auch meinen Beruf weiterführen", erzählt sie in einem Interview 1982. "Auch nach der Heirat war es mir selbstverständlich, weiter zu arbeiten".
Bild: Christiane von Königslöw
Hochzeit mit Sigmund Kretschmer - moderne Ehe mit einem Künstler
In Dresden hat Annelise 1927 den Bildhauer Sigmund Kretschmer kennen- und lieben gelernt, 1928 heiratet sie ihn. Vier Kinder bekommt das Paar, um die sich meist der Vater kümmert. Eine ungewöhnliche Arbeitsteilung für die 1930er Jahre: Eine Frau als Alleinverdienerin, die mit den Einnahmen aus ihrem Atelier die Familie ernährt. Ab und zu greifen auch ihre Eltern finanziell unter die Arme.
Bild: Christiane von Königslöw
Reise nach Paris: Suche nach ungewöhnlichen Perspektiven
Nach ihrer Ausbildung in Dresden reist Annelise Kretschmer nach Paris. Die französische Hauptstadt ist das quirlige Zentrum der Avantgarde-Fotografie in den 1920er Jahren. Abseits der Touristenströme sucht sie eigene Motive und neue Perspektiven: verfallene Hinterhöfe, heruntergekommene Fassaden. Sie nimmt Details und Strukturen in den Fokus, wie bei diesem Foto, der Treppe zu Sacre Coeur.
Bild: Christiane von Königslöw
Frisch und selbstbewusst: Die "Neuen Frauen" der Weimarer Republik
Nach dem Ende des Deutschen Kaiserreiches weht in den 1920er Jahren ein frischer Wind: Frauen dürfen seit 1919 wählen, sie arbeiten, wollen mitreden und mitgestalten. Dieses Selbstbewusstsein zeigt sich auch modisch: Lange Zöpfe kommen ab, kurze Haare sind chic. Annelise Kretschmer fotografiert diese "Neuen Frauen", mit Bubikopf und coolem Blick. Frauen, wie sie selbst.
Bild: Christiane von Königslöw
Fotografin der Dortmunder Gesellschaft
Auch die 25-jährige Opernsängern Ellice Illiard kommt Annelise Kretschmer vor die Linse. 1930 porträtiert sie die Berliner Koloratursopranistin in ihrem Atelier in Dortmund. Im gleichen Jahr wird Annelises Tochter Tatjana geboren, zwei Jahre später der Sohn Michael. 1938 kommt Nina und 1940 die jüngste Tochter, Christiane, auf die Welt. Von ihrem Fotoatelier lebt jetzt eine sechsköpfige Familie.
Bild: Christiane von Königslöw
Sinnliche Momente und eine drohende Gefahr
Annelises Mann Sigmund Kretschmer 1934 - eingefangen in einem privaten Moment. Ein Jahr zuvor sind in Deutschland die Nazis an die Macht gekommen. Als Halbjüdin muss Annelise aus der "Gesellschaft Deutscher Lichtbildner" austreten, ihr Schaufenster wird beschmiert. Bis sie der Deutschen Arbeitsfront, der DAF beitritt. 1936 macht sie ihre Meisterprüfung und bildet fortan Lehrlinge aus.
Bild: Christiane von Königslöw
Lieblingsmotive: Frauen, Kinder und die Familie
Kinder gehören zu ihren Lieblingsmotiven: Hier hat sie 1943 ihre Tochter Nina fotografiert. Über Jahre hinweg porträtiert sie die Familienmitglieder immer wieder. Auch nach 1938, als Mann und Kinder in die Künstlerkolonie Worpswede gezogen sind, wo sie Freunde haben. Annelise arbeitet weiter im Dortmunder Atelier und nimmt außerdem Aufträge von Zeitschriften und Magazinen an.
Bild: Christiane von Königslöw
Fotografie als Kommunikation
Fotografie ist für Annelise Kretschmer ein Mittel, Menschen nahe zu kommen. Sie möchte sie "zu einer Selbstdarstellung bewegen, in der die wesentlichen Charakterzüge zum Ausdruck kommen", erzählt sie in einem Interview 1982. Sie verzichtet auf Requisiten. Oft gelingen ihr die besten Fotos ganz am Anfang, wenn die Porträtierten noch gar nicht auf die Aufnahme gefasst sind.
Bild: Christiane von Königslöw
Zuflucht in der Künstlerkolonie Worpswede
Bauernkinder im Dorf Worpswede in Niedersachsen, in der Nähe von Bremen. 1889 hatte eine erste Generation von Künstlern die Künstlerkolonie Worpswede gegründet. Das weite, flache Land, die faszinierend karge Landschaft und die frische Luft zogen seitdem immer wieder Künstler und Sinnsuchende hierher. Bei ihren Familienbesuchen fotografiert Annelise Kretschmer auch oft Dorfbewohner.
Bild: Christiane von Königslöw
Gesichter mit Lebenslinien
Annelise Kretschmer nimmt sich Zeit für die Bilder, möchte das Vertrauen der Porträtierten gewinnen. Nur so kann sie ihnen so nahe kommen, wie auf diesem Bild einer alten Bäuerin in Worpswede 1937. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wird auch Dortmund bombardiert. So oft wie möglich fährt Annelise zur Familie nach Worpswede aufs Land.
Bild: Christiane von Königslöw
Neubeginn nach dem Krieg
1944 wird das Dortmunder Atelier von einer Bombe getroffen, die Familie zieht zu Annelises Mutter nach Baden-Württemberg, in die Nähe von Freiburg. Gerne würden sie hier bleiben, aber es gibt nicht genug Kunden. 1950 kann das Atelier in Dortmund wieder eröffnet werden. Ein Jahr zuvor flirtet die deutsch-schweizerische Kinderbuchautorin Bettina Hürlimann-Kiepenheuer mit Annelises Kamera.
Bild: Christiane von Königslöw
Aus dem Atelier in die Welt
Seit Ende der 1950er Jahre arbeitet Annelise Kretschmer mit ihrer jüngsten Tochter Christiane zusammen, ihr Mann Sigmund stirbt 1953. Ihre Kunden kommen aus Wirtschaft, Industrie und Kultur (wie 1963 der Maler Walter Drexel), ihre Fotos werden auf internationalen Ausstellungen gezeigt. 1978 gibt sie das Atelier auf. 1987 stirbt Annelise Kretschmer mit 84 Jahren in ihrer Heimatstadt Dortmund.
Bild: Christiane von Königslöw
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Der Vater Ihrer Mutter, Julius Silberbach, stammte aus einer jüdischen Familie. Obwohl er evangelisch getauft war, blieb er für die Nationalsozialisten Jude. Ihre Mutter wurde daher als Halbjüdin betrachtet. Was ist 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, passiert?
Ihre Schaukästen (im Fotoatelier, Anm. d. Red) sind beschmiert worden, sie wurde ausgeschlossen aus der GdL (Gesellschaft deutscher Lichtbildner). Und sie hatte es finanziell sehr schwer. Meine Mutter ist durch ihre wohlhabenden Eltern und auch von Freunden sehr unterstützt worden. Das ist auch nach dem Krieg so weitergegangen. Ich habe durch sie Gottvertrauen gelernt: Wir gingen zum Beispiel eines Abends nach der Arbeit durch die Stadt, und da sagte sie mir, ich weiß gar nicht, wie ich die Miete morgen bezahlen kann. Und dann rief am nächsten Tag eine Familie an, die meine Mutter immer wieder fotografiert hatte - und sie hatte wieder einen größeren Auftrag.
Sie fotografierte ja auch oft Industrielle und Politiker. Hatte sie in der Dortmunder Gesellschaft vielleicht auch Beschützer und Fürsprecher?
Ja, das glaube ich ganz bestimmt, ich weiß das nur nicht. Ich bin ja das jüngste der Kinder, ich habe das gar nicht so mitgekriegt. Und nach dem Krieg mussten wir uns ja das Leben wieder aufbauen. Und dadurch haben wir gar nicht so viel darüber gesprochen. Jetzt denke ich oft, ich würde sie gerne fragen, wie sie damals da durchgekommen ist. Sie war ein so sympathischer Mensch, weil sie so auf andere zugegangen ist, dass sie bestimmt viele Gönner hatte in Dortmund. Und sie hat ja auch Nazis fotografiert, die immer wieder Bilder von ihr wollten.
Ende der 50er Jahren haben Sie mit Ihrer Mutter zusammen im Fotoatelier gearbeitet. Wie klappte das?
Nach der Schule, mit 18, bin ich richtig in die Lehre zu meiner Mutter gegangen und habe ihr 20 Jahre lang geholfen. Das waren meine 20 ersten Arbeitsjahre und ihre 20 letzten. Ich habe das umsonst gemacht, meine Mutter konnte das nicht bezahlen. Meine Mutter war die Künstlerin und hat die Aufnahmen und die Dunkelkammerarbeit gemacht, also das Künstlerische, während ich das Handwerkliche übernommen und sie unterstützt habe. Das ging aber nahtlos ineinander über. Also die Kunden wussten manchmal nicht, hat Christiane die Aufnahme gemacht oder war es Frau Kretschmer. Wir hatten ein wunderbares Leben, ich habe sie ungeheuer verehrt und geliebt. Als Mutter, aber auch als Künstlerin.