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PolitikEuropa

Polnischer Richter fühlte sich wie in einem Roman von Kafka

Aureliusz M. Pędziwol
25. Juli 2023

Als Folge der Justizreformen in Polen verlor Igor Tuleya seine Zulassung als Richter. Im Interview spricht er über sein inzwischen aufgehobenes Berufsverbot: "Ich habe mich wie Joseph K. gefühlt."

Der suspendierte Richter Igor Tuleya steht vor einer Betonwand in Warschau, auf der sein Gesicht gesprayt wurde
Igor Tuleya im August 2021 in Warschau. Damals war der Richter noch suspendiertBild: Bernd Riegert/DW

Eine der einschneidendsten Konsequenzen der von der PiS initiierten Justizreformen in Polen war die Einführung einer Disziplinarkammer. Sie konnte jeden unliebsamen Richter und Staatsanwalt entlassen, wenn diese die Entscheidungskompetenz oder Legalität anderer Richter, einer Kammer oder eines Gerichts anzweifelten. Die inzwischen wieder abgeschaffte Disziplinarkammer suspendierte auch Richter Igor Tuleya. Sein lauter und anhaltender Protest machte ihn polenweit bekannt. Inzwischen ist er wieder im Amt. Dennoch bleibt er einer der schärfsten Kritiker der Justizreformen. Sein Fall hat auch europäische Institutionen beschäftigt.

DW: Wie lange waren Sie mit einem Berufsverbot belegt?

Igor Tuleya: 741 Tage lang, vom 18. November 2020 bis zum 30. November 2022. Ich habe mich wie Joseph K. in Kafkas "Der Prozess" gefühlt. Weil ich mit absurden Anklagen konfrontiert war, weil in meiner Causa kein Gericht entschied, sondern eine Disziplinarkammer, und weil die Regierenden meinten, meine Immunität als Richter, die mich vor strafrechtlicher Verfolgung im Amt schützt, wäre aufgehoben worden. Deswegen wurde ich von der Staatsanwaltschaft belangt. Meiner Ansicht nach war meine Immunität aber nie aufgehoben.

Wer oder was hat Ihre Rückkehr ins Richteramt ermöglicht?

Recht bekam ich von der "Kammer für berufliche Verantwortung". Sie ist an die Stelle der Disziplinarkammer getreten - aber ebenfalls kein unabhängiges Gericht. Die Kammer für berufliche Verantwortung stufte die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage als absurd ein und setzte mich wieder ein. Aber sie hat meine Immunität als Richter nicht wiederhergestellt, die nach Meinung der Kammer immer noch aufgehoben ist.

Jurist Igor Tuleya (geb. 1970) ist seit 2010 Richter am Bezirksgericht in Warschau. Er gehört der Vereinigung der polnischen Richter "Iustitia" an. Er ist einer der bekanntesten Kritiker der unter der PiS-Regierung eingeführten Änderungen im polnischen JustizsystemBild: Aureliusz M. Pedziwol/DW

Ihr Status ist also nicht ganz derselbe wie vor Ihrer Suspendierung?

Ich darf Urteile sprechen und ich tue dies dort, wo ich vorher gearbeitet habe. Aber mein Status ist in der Tat nicht ganz so wie vorher.

Stehen Sie immer noch unter Beschuss?

Ja, weil die Staatsanwaltschaft sich die Position der Kammer für berufliche Verantwortung nicht zu Herzen genommen hat. Nur zwei Wochen nach meiner Wiederzulassung versuchte sie erneut, Anklage gegen mich zu erheben, was ich natürlich abgelehnt habe.

Demonstranten protestieren am 9.06.2020 in Warschau vor einer Anhörung Igor Tuleyas vor der umstrittenen DisziplinarkammerBild: Omar Marques/Getty Images

Sie sind nicht der Einzige, der suspendiert worden ist.

Zeitweise waren, glaube ich, zehn Richter suspendiert. Man fing an, uns wieder einzusetzen, als das Gefeilsche der Regierung mit der Europäischen Kommission um Gelder aus dem nationalen Wiederaufbauplan begann.

Sind alle Richter wieder eingesetzt worden?

Heute gibt es keine suspendierten Richter mehr, aber die Schikanen haben nicht aufgehört. Allerdings versucht die Regierungspartei jetzt, dies diskret zu tun. Man erlaubt manchen Richtern wie Paweł Juszczyszyn nicht, Urteile zu fällen, obgleich sie wiedereingesetzt worden sind. Andere wurden versetzt. Jemand, der mehr als zwanzig Jahre lang Strafrichter war, soll sich plötzlich mit Sozialversicherungen beschäftigen.

Richter Igor Tuleya händigt beim Festival "Berge der Literatur" Broschüren für die Bürgeraktion "Tour de Konstytucja" ("Verfassungstour") aus. Das Festival ist in diesem Jahr den kommenden Parlamentswahlen in Polen gewidmetBild: Aureliusz M. Pedziwol/DW

Wurden die bisherigen Fortschritte im Kampf gegen die Justizreformen durch die Proteste in Polen und die Haltung der Europäischen Union erreicht?

So ist es. Dass das polnische Justizsystem acht Jahre lang nicht vollständig von den Regierenden gekapert wurde, ist vor allem auf den gemeinsamen Kampf von Bürgern und Juristen in Polen zurückzuführen. Wir hatten und haben nach wie vor auch enorme Unterstützung aus juristischen Kreisen im Ausland, von Anwälten, Richtern, Wissenschaftlern. Schließlich fingen auch die Europäische Kommission und andere europäische Institutionen an, entschlossener zu handeln und an ihren Prinzipien festzuhalten. Zuvor waren sie lange tatenlos geblieben. Einmal habe ich sogar gesagt, dass Europa, so wie es 1939 nicht für Danzig sterben wollte [d.h. das polnische Volk beim Angriff der Wehrmacht nicht unterstützte, Anm. d. Red.], jetzt nicht für die polnische Rechtsstaatlichkeit sterben will.

Polnische Justizreformen: Eine Bedrohung für ganz Europa

Welche Länder haben vor allem geholfen?

Von Anfang an haben die Niederlande und die skandinavischen Länder die Verteidigung der polnischen Rechtsstaatlichkeit angeführt. Ich denke, dass in diesen Ländern ein sehr hohes Bildungsniveau dahinter steckt. Die Leute dort wissen, was Rechtsstaatlichkeit bedeutet, und sie sind sich bewusst, dass eine solche Fäulnis, die ein Land in der Europäischen Union angreift, eine Bedrohung für ganz Europa darstellt.

Aber es gibt kein Land in Europa, das nicht mit Interesse darauf schaut, was hier passiert, und das nicht etwas vom polnischen Beispiel lernen möchte. Denn was in unserem Land geschehen ist, kann sich anderswo wiederholen. Wenn wir den Italienern, Franzosen oder Niederländern die Chronologie der Ereignisse in Polen darlegen, sind sie schockiert, fragen aber sofort, ob die Anfänge dieser Krankheit nicht auch in ihren Heimatländern sichtbar seien.

Ein Protestler hält ein Plakat mit der Aufschrift "Europa gib nicht auf" bei einer Demonstration gegen die Justizreformen in Warschau am 9.06.2020 hochBild: Omar Marques/Getty Images

Fragen die Ungarn auch nach?

Ich fürchte, die Justiz in Ungarn wurde bereits vollständig von Orban vereinnahmt und ist nicht unabhängig.

Hass schüren auf Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte

Und wie sieht es in jenen Ländern aus, die in die EU aufgenommen werden möchten? Etwa die Ukraine, aber auch die Balkanländer und die Türkei?

Wir haben natürlich Kontakt zu ukrainischen Juristen. Doch leider ist die Rechtsstaatlichkeit dort ein stilles Opfer des Krieges geworden. Oberste Priorität für die Ukraine hat zurzeit die materielle Hilfe, was auch verständlich ist. Aber über Rechtsstaatlichkeit muss man reden und darüber diskutieren, wie sie dort funktioniert. Gleiches gilt für den Balkan.

Wir versuchen, aus den Fehlern anderer zu lernen. Türkische Richter, die vor Erdogan nach Westeuropa geflohen sind, haben ihre Erfahrungen mit uns geteilt. Heute sind wir diejenigen, die ihre Erfahrungen weitergeben, zum Beispiel an Juristen in Georgien. Und als die großen Proteste in Israel begannen, um die Rechtsstaatlichkeit dort zu verteidigen, haben uns auch Journalisten und Juristen von dort kontaktiert und gefragt, wie es bei uns aussieht. Wenn wir ihnen etwas Wissen vermittelt und sie davon profitiert haben, ist das sehr gut.

Tuleya ist einer der bekanntesten Gesichter des Protests gegen die Justizreformen, sein Bild ziert oft Plakate, wie hier bei einer Demo in Krakau am 18.05.2021Bild: Beata Zawrzel/NurPhoto/picture alliance

Wie würden Sie das, was Sie in der Türkei beobachtet haben, damit vergleichen, was Sie gerade in Polen erleben?

Der türkische Richter und jetzige politische Exilant Yavuz Aydin hat mir erzählt, wie dort der Hass auf einzelne Juristen geschürt wird. Ein prominenter Politiker äußert sich, zeigt mit dem Finger auf jemanden und die staatlichen Medien greifen an. Parallel dazu starten Troll-Armeen und anonyme Hater in den sozialen Medien eine Angriffswelle, bis es schließlich zu physischen Angriffen auf der Straße kommt. So wird der Jurist verleumdet und aus dem öffentlichen Leben verbannt.

In Polen sieht es ähnlich aus. Der Unterschied besteht darin, dass Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte, die nicht auf einer Linie mit der Regierungspartei sind, noch nicht ins Gefängnis geworfen werden.

Das Gespräch wurde am 9. Juli 2023 auf Schloss Sarny (Scharfeneck) in Scinawka Gorna (Obersteine) in der Region Klodzko (Glatz) im Rahmen des Festivals "Berge der Literatur" geführt. Das Festival wurde 2015 von Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ins Leben gerufen.

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