1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Europameister der Verschwörungstheorien

10. Dezember 2018

Verschwörungstheorien haben weltweit auch in aufgeklärten, demokratischen Gesellschaften Konjunktur. In Europa findet das Phänomen besonders in Ungarn seine Anhänger, meint der Politologe Péter Krekó im DW-Interview.

Ungarn | Anti-Soros Plakate
Bild: AFP/Getty Images

Deutsche Welle: Verschwörungstheorien sind noch ein Nischenthema in der Forschung. Wie kamen Sie darauf, sich dem Thema zu widmen?

Péter Krekó: Ich forsche darüber schon seit vielen Jahren und besonders intensiv seit der Flüchtlingskrise 2015, denn seit damals sind Verschwörungstheorien zu einem Einflussfaktor in der ungarischen Politik und auch zu einem offiziellen Mittel der Regierungspolitik geworden. Das sieht man beispielsweise an einem Ergebnis unserer Meinungsumfrage: 51 Prozent der Befragten sind überzeugt, dass der US-Börsenmilliardär ungarisch-jüdischer Abstammung George Soros den Plan hat, Flüchtlinge massenhaft nach Europa zu bringen. Genau das ist auch seit mehreren Jahren offizielle Propaganda der ungarischen Regierung.

Die Orbán-Regierung hat in den letzten drei Jahren sehr viel Geld und Energie investiert, um diese Theorie zu verbreiten. Ist sie also erfolgreich gewesen?

Ja, denn diese Theorie wird sogar auf Seiten der Anhänger der Opposition vielfach geglaubt. Ein anderes Beispiel ist die Behauptung, Muslime hätten einen geheimen Plan, Europa zu besetzen und uns schleichend ihre Kultur aufzudrücken. Auch das glauben viele, die Orbán nicht wählen.

Haben Sie die Umfrageergebnisse erwartet oder gab es Überraschungen?

Die antisemitischen Verschwörungstheorien sind in Ungarn verbreiteter als wir glaubten. Das war für uns eine Überraschung. Zum Beispiel stimmen 44 Prozent der Befragten der Behauptung zu: "Die Juden wollen die Welt beherrschen." Und sogar 49 Prozent glauben, dass Juden eine entscheidende Rolle in internationalen Finanzinstitutionen anstreben.

Wie gefährlich sind die Umfrageergebnisse zu den antisemitischen Verschwörungstheorien?

Der ungarische Antisemitismus ist zur Zeit ein Hund, der laut bellt, aber meistens nicht beißt. Es gibt aktuell kaum antisemitische Gewalttaten im Land. Ich möchte dennoch einen Aspekt unserer Forschung hervorheben: Die anti-muslimischen Einstellungen und die Stimmung gegen Soros ziehen in Ungarn auch einen verstärkten Antisemitismus nach sich. Da gibt es tatsächlich eine Korrelation, die wir feststellen konnten. Das heißt, wenn sich eine Verschwörungstheorie verbreitet, zieht das auch andere Hass-Narrative nach sich, die vielleicht nicht beabsichtigt waren.

Péter Krekó - Verschwörungstheorien ein weltweites ProblemBild: Political Capital Institute/Ivan Karpati

Sie sagen, die Mediensituation und die offizielle Verbreitung von Verschwörungstheorien würden dazu führen, dass immer mehr Leute an sie glauben. Gibt es noch andere Faktoren?

Ja, auch die Polarisierung der ungarischen Gesellschaft trägt stark dazu bei. Wir nennen das Tribalismus, der nicht nur für Ungarn immer bezeichnender wird, sondern generell für Europa. Da geht es um einen Politikstil, der als Kampf auf Leben und Tod erscheint. In einer solchen Atmosphäre wird selbst die schrecklichste Behauptung über den politischen Gegner glaubhaft. Besonders leicht hat es der Tribalismus natürlich in einem "illiberalen" Politik-System wie in Ungarn. Aber es handelt sich hier nicht um ein ungarisches, sondern um ein weltweites Phänomen. Ein Beispiel dafür ist, dass laut Umfragen die Hälfte der Anhänger der Republikaner in den USA glauben, Hillary Clinton betreibe ein Pädophilen-Netzwerk.

Ungarn ist also in puncto Verschwörungstheorien im europäischen oder westlichen Kontext keine Ausnahme?

Nein, es geht um ein allgemeines Phänomen. Ungarn ragt sicher heraus, aber weltweit wächst der Glaube an Verschwörungstheorien. Das hängt auch mit unserem Zeitgeist zusammen, der zeigt, wie wenig die Menschen internationalen Institutionen vertrauen und wie sehr die Veränderungen in der Welt dazu führen, dass sie an bizarre Theorien über den Ursprung dieser Veränderungen glauben. Wir haben es mit einer weltweiten Vertrauenskrise zu tun.

Hat der Glaube an Verschwörungstheorien auch greifbare Konsequenzen? Kann der Gedanke zur materiellen Gewalt werden, wenn er die Massen ergreift?

Verschwörungstheorien können in erster Linie für gesellschaftliche Minderheiten gefährlich sein, das kennen wir aus der Geschichte, aber sie können auch andere gefährliche gesellschaftliche Stimmungen erzeugen, denken wir nur an Verschwörungstheorien über Impfungen und die Abnahme der Impfbereitschaft von Eltern für ihre Kinder. Da geht es nicht um unschuldige dumme Behauptungen, sondern um Behauptungen mit ernsten Konsequenzen. Das Problem sind Länder, in denen Verschwörungstheorien Teil der offiziellen Politik sind, wie Ungarn, Italien oder Brasilien. Dort können sehr schädliche Prozesse in Gang kommen. Und dort sieht man auch, dass es viel leichter ist, solchen Theorien zur Akzeptanz zu verhelfen, als sie argumentativ zu zerlegen.

Péter Krekó studierte Politikwissenschaften und Sozialpsychologie in Budapest. Er ist europaweit ein ausgewiesener Experte zu Verschwörungstheorien, seine Dissertation beschäftigt sich mit der Sozialpsychologie von Verschwörungstheorien. Daneben forscht er vor allem zum russischen Einfluss in Westeuropa und dem damit zusammenhängenden Populismus und Radikalismus. Seit 2011 leitet er das Politik-Forschungsinstitut Political Capital.

Das Interview führte Keno Verseck

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen