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"Der Radsport ist ein Vorreiter"

Joscha Weber10. Januar 2014

Die Dopingskandale haben der Tour de France offenbar kaum geschadet, immer noch zieht das Rennen die Massen an. Auch weil sich vieles zum Positiven geändert habe, sagt Tour-Direktor Christian Prudhomme im DW-Interview.

Oktober 2012: Christian Prudhomme präsentiert die 100. Tour de France im Jahre 2013 (Foto: epa)
Bild: picture-alliance/dpa

"Wir werden den Kampf gegen Doping nicht aufgeben"

03:08

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DW: Monsieur Prudhomme, nach 100 Ausgaben der Tour de France ist es Zeit für eine Bilanz. Was ist das Erbe der Tour für die Gesellschaft?

Christian Prudhomme: Um Ihnen meine Definition der Tour de France zu geben: 3500 Kilometer pure Freude. Vom ersten bis zu letzten Kilometer bringt die Tour die Menschen entlang der Strecke zum lächeln. Noch vor dem sportlichen Erbe hat die Tour ein gesellschaftliches Erbe. Die Menschen, die an die Strecke kommen, sind glücklich wenn sie die Tour sehen, egal aus welchem Land sie kommen oder wie alt sie sind.

Zu Beginn war die Tour ein echtes Abenteuer: Sehr lange Etappen, keine helfenden Mechaniker und nicht einmal eine Schaltung am Rad. Heute wirkt die Tour wie die Formel 1 des Radsports: Im Windkanal getestetes Highend-Material, perfekt vorbereitete und abgeschirmte Athleten - alles scheint berechnet. Hat der Fortschritt die Identität der Tour verändert?

Die Tour hat sich durch das Rennen selbst verändert, wie alle Sportarten. Die Tour ging immer mit Ihrer Zeit. Sie wurde von der Presse erfunden, sie wurde bekannt durch das Radio, sie wurde immer größer durch das Fernsehen und heute wird sie von den sozialen Medien begleitet. Die Tour hat niemals ihre Seele verloren. Aber natürlich hat sie sich der Zeit angepasst. Ich finde, die Tour ist auch nach 100 Ausgaben immer noch auf der Höhe der Zeit.

"Vielleicht braucht es mehr Zeit, bis man uns wieder glaubt"

Die 100. Tour de France wurde von Chris Froome quasi nach Belieben dominiert. Wird sich seine Herrschaft über die kommenden Jahre fortsetzen?

Ich wäre sehr vorsichtig, die Zukunft vorherzusagen. Eigentlich wissen wir nichts über sie. Natürlich hat Chris Froome die Tour 2013 dominiert, er ist ein herausragender Bergfahrer. Aber die Form kommt und geht auf dem Rad und Froome wird im kommenden Juli andere Gegner haben: Vincenzo Nibali fehlte beispielsweise bei der vergangenen Tour - ein sehr starker Fahrer. Also ich wäre vorsichtig mit Prognosen.

Aufbruch in eine bessere, sauberere Zukunft? Prudhomme sieht den Radsport auf dem richtigen WegBild: Joel Saget/AFP/Getty Images

Der Sieger der Tour wird derzeit automatisch mit Fragen und Zweifeln konfrontiert. Eine Situation, die Ihnen nicht gefallen kann. Wie lautet Ihre Antwort auf die Fragen?

Es hat sich ja schon viel geändert. Zwischen unserem Ruf und der Realität besteht aber ein gewisser Unterschied. Vielleicht braucht es mehr Zeit, bis man uns wieder glaubt. Bei der Doping-Untersuchung des französischen Senats (die im vergangenen Juli veröffentlicht wurde und mehrere Dopingfälle publik machte, Anm. d. Red.) kam heraus, dass der Radsport in der Liste der dopingbelasteten Sportarten nur an sechster Stelle stand. Fünf Sportarten lagen also vor uns. Aber in den Medien wurde nur auf den Radsport gezeigt. Natürlich haben Radsportler das Publikum betrogen, vielleicht auch mehr als andere. Aber seitdem hat sich viel geändert und wir haben Verantwortung übernommen. Wir werden den Kampf gegen Doping nicht aufgeben, es ist ein ewiger Kampf.

"Armstrong muss nun endlich alles sagen, was er weiß"

Trotz der zahlreichen Erfolge der deutschen Fahrer in den vergangen Jahren, gibt es immer noch kein deutsches Team in der World Tour, die Fernsehpräsenz der Tour de France in Deutschland ist eher gering. Wann wird sich daran etwas ändern?

Das wüsste ich gerne von Ihnen! Nein, es ist wahr: Wenn man Fahrer wie Marcel Kittel, John Degenkolb oder Tony Martin siegen sieht, fragt man sich schon, warum sie in ihrem Land nicht behandelt werden wie die Stars in anderen Sportarten. Sie hätten es verdient. Ich glaube dieser Prozess braucht noch Zeit. Ich weiß, dass Marcel Kittel zu deutschen Fernsehsendern gegangen ist, um das Gespräch zu suchen. Ich finde das wunderbar! Er hat die Situation, in der sein Sport steckt, verstanden. Der Radsport muss wieder wachsen. Deutschland ist das Herz von Europa, der beste Partner Frankreichs. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Land über einen längeren Zeitraum kein Topteam haben wird. Wenn sich dies ändert, wird das Fernsehen die Tour auch wieder in Deutschland zeigen, ganz sicher.

Dunkle Wolken der Vergangenheit: Armstrong war einst ein Held der Tour, heute ist er eine AltlastBild: picture-alliance/dpa

Die Tour beruft sich immer wieder auf Ihre Geschichte und ihre Helden der Vergangenheit. Zu diesen Helden gehört auch ein gefallener: Lance Armstrong. Er hat gesagt, dass zu seiner Zeit fast alle gelogen und betrogen haben. War die Tour während der Ära Armstrong eine große Lüge?

Nein, das glaube ich nicht. Armstrong muss nun endlich alles sagen, was er weiß. Das ist sehr wichtig für den Radsport. Wir brauchen eine unabhängige Untersuchung der Vergangenheit. Dort muss alles gesagt werden, um das Vertrauen wieder aufzubauen. Der Radsport hat sich bereits geändert, aber noch nicht sein Image. Letzteres wird noch Zeit brauchen. Eins ist sicher: Wir werden niemals so tun, als habe Armstrong nicht existiert. Er hat existiert.

"Der Radsport gilt als das hässliche Entlein der Sportwelt"

Nach jedem der zahlreichen großen Skandale in der Tour-Geschichte haben die Medien vom Tod der Tour gesprochen. Aber die Tour ist immer noch da und mobilisiert die Massen. Gehören die Skandale vielleicht zur Faszination Tour de France?

Ich weiß nicht, ob die Skandale wirklich Teil der Faszination sind. Aber schon 1904, während der zweiten Tour de France, wollte ihr Gründer, Henri Desgrange die Tour beenden (weil die ersten vier der Gesamtwertung Teile der Strecke mit dem Zug fuhren statt mit dem Rad, Anm. d. Red.). Die Tour ist viel mehr als das Rennen. Die Tour basiert auf drei Pfeilern: dem Sport, der Landschaft und den Menschen. Die Tour bringt Generationen zusammen. Das ist die Stärke der Tour.

Experten im Anti-Doping-Kampf fordern eine Aufbewahrung von Doping-Kontrollen für spätere Tests, wenn die Analysen ausgereifter sind. Ist das die Waffe gegen die Doper, die den Jäger bisher immer einen Schritt voraus waren?

Ich glaube nicht. Wenn dann muss man das überall machen. Beispielsweise wurden nach der Fußball-WM 1998 in Frankreich alle Proben vernichtet. Von der Tour (im selben Jahr, Anm. d. Red.) wurden sie aufgehoben und später nachgetestet. Das ist eine Schieflage. Die Proben sollten in allen Sportarten aufgehoben werden. Zu oft wird der Radsport an den Pranger gestellt, nur um eine Story zu haben. Der Radsport gilt als das hässliche Entlein der Sportwelt. Dabei ist er inzwischen ein Vorreiter. Langsam wird dies auch anerkannt. Ich verstehe ja, dass man uns nicht mehr glaubt. Jedes Jahr gibt es im Radsport 12.000 Doping-Kontrollen, allein 650 davon während der Tour de France. Diesen Maßstab sollte man auch bei den anderen Sportarten anlegen. Gleiche Waffen für alle. Wenn man die Dopingproben für acht bis zehn Jahre aufhebt, dann muss dies für alle Sportarten in allen Ländern gelten, überwacht von einer unabhängigen Institution.

Unter Ihrer Ägide hat die Tour den Anti-Doping-Kampf verschärft. 2013 gab es keinen positiven Test. Bedeutet das, dass wir der Tour jetzt wieder vertrauen dürfen?

Es wird besser. Aber: Nur weil es bei der vergangen Tour keine positiven Fälle gab, heißt das nicht, dass es nicht in Zukunft welche geben wird. Ich verspüre einen echten Willen im Radsport die Dinge zu ändern. Ich träume davon, dass dieser Wille von der ganzen Sportwelt geteilt wird. Bislang ist das nicht der Fall.

Christian Prudhomme ist seit 2007 Direktor der Tour de France. In dieser Zeit intensivierte das Rennen den Kampf gegen das Doping - auch weil sich Teile des Publikums abgewendet haben. Mittlerweile expandiert der Radsport in neue Märkte und auch das größte Radrennen der Welt gibt sich internationaler. Tour-Boss Prudhomme, Jahrgang 1960 und von Haus aus Sportjournalist, will seinem Rennen wieder zu mehr medialer Aufmerksamkeit verhelfen.

Das Gespräch führte Joscha Weber.

Mitarbeit: Jan Fritsche

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