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Politik

Irak: Digitales Museum zeigt jüdisches Erbe von Mossul

Judit Neurink kk
4. November 2020

Ein Historiker aus Mossul erinnert im Internet an die Geschichte der Juden in seiner Stadt. Die digitale Schau soll helfen, der lange von Dschihadisten besetzten Stadt den Weg in eine multikulturelle Zukunft zu weisen.

Irak Mossul | Jüdische Geschichte
Historische Fotografie einer früheren Synagoge in der irakischen Ortschaft Al KiflBild: Judit Neurink/DW

Ein virtuelles Museum voller Erinnerungen an Mossul: Das ist es, was den Historiker Omar Mohammed antreibt, wenn er Geschichten und Dokumente über die vergessene jüdische Vergangenheit in Iraks zweitgrößter Stadt sammelt. Ohne solche Erinnerungen werde die Stadtgeschichte unvollständig bleiben, und die Menschen würden alte Irrtümer wieder und wieder begehen, ist er überzeugt.

"Während des Staatsstreichs von 1958 kam es auch in Mossul zu einem großen Massaker. Menschen töteten sich gegenseitig auf der Straße, Kommunisten gegen Nationalisten", berichtet der irakische Historiker und führt aus: "Diese Ereignisse wurden ungenügend und zugleich voreingenommen dokumentiert. Auch darum konnten die Verantwortlichen für jene Taten später zu Führern und Helden werden." Diese Erfahrung präge bis heute das politische Spektrum von Mossul und habe seinerzeit indirekt auch zur Ausbreitung und Machtübernahme des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) beigetragen.

Vernachlässigt: Blick auf das ehemalige jüdische Viertel von MossulBild: Judit Neurink/DW

Aus diesem Grund gründete Mohammed 2014 - Mossul war damals vom IS besetzt - den Weblog "Mosul Eye". Dieser trug Berichte von den Gräueltaten der Dschihadisten in alle Welt. "Ich wollte nicht, dass künftige Generationen von Mossulis die gleichen Lücken in ihrer eigenen Stadtgeschichte finden werden wie ich", sagt Omar Mohammed. Lücken wie die bisher wenig bekannte jüdische Geschichte seiner Stadt, die auch er erst entdeckte, nachdem er seine Forschungen begonnen hatte.

Exodus aus dem Irak

Der Irak hat mit Blick auf seine jüdische Bevölkerung eine bedrückende Geschichte. Ihr Großteil - rund 150.000 Menschen - verließ das Land während des Zweiten Weltkriegs wie auch nach der Gründung Israels. Die Flüchtenden suchten Schutz vor Diskriminierung und Verfolgung durch das seinerzeit in Bagdad regierende, mit den deutschen Nationalsozialisten kooperierende Regime. Auch nach 1948, dem Gründungsjahr des jüdischen Staates, wurden Juden schikaniert und außer Landes gedrängt. Zwar hatte und hat der Irak keine direkte Grenze zu Israel. Dennoch entsandte er Soldaten in den unmittelbar nach der Staatsgründung einsetzenden israelisch-arabischen Krieg.

In dieser zweiten Welle verließen in den frühen 1950er-Jahren zwei Drittel der bis dahin im Irak verbliebenen Juden das Land. Ein eigens erlassenes Gesetz zwang sie, alle ihre Besitztümer zurückzulassen. Heute hat der Irak so gut wie keinen jüdischen Bevölkerungsanteil mehr. Diejenigen, die noch übrig sind, schützen sich, etwa indem sie zu anderen Religionen konvertieren. Ihre Geschichte ist vergessen, ihre Quartiere verfallen, weil niemand mehr sie in Schuss hält.

Die Reste der ehemaligen Synagoge von MossulBild: Judit Neurink/DW

Wettlauf gegen die Zeit

Omar Mohammed möchte die Geschichte der irakischen Juden in seiner Stadt wieder bewusstmachen. Denn kulturelle Vielfalt, so ist er überzeugt, sei eine der Voraussetzungen für den Frieden in seiner Stadt. In Mossul, sagt er, hätten vor dem Exodus nur rund 15.000 Juden gelebt - deutlich weniger also als jene 100 000, die damals in Bagdad zu Hause waren. "Welchen Schaden hätten diese Menschen anrichten können?!", sagt er und seufzt. Die Juden, berichtet er weiter, seien sich ihrer geringen Anzahl schmerzlich bewusst gewesen. Entsprechend groß war ihr Schutzbedürfnis.

"Wenn man in ständiger Angst lebt", sagt er und spielt damit auf seine eigene Erfahrung während der IS-Herrschaft in Mossul an, "dann ist es schrecklich, wenn man jeden Tag über seine eigene Sicherheit nachdenken muss."

Um den überwiegenden vergessenen Einwohnern der Stadt ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat Omar Mohammed Dokumente aus ganz Europa gesammelt. Sie sind französischen, osmanischen oder britischen Ursprungs und enthalten Namenslisten, Details zur sozialen und wirtschaftlichen Situation der damaligen Bewohner der Stadt, dazu Korrespondenzen, Karten wie auch die Pläne für die Synagoge von Mossul. Heute liegt das Bauwerk teilweise in Trümmern.

Der irakische Blogger und Historiker Omar Mohammed, hier als Gast auf dem Global Media Forum der DW 2018Bild: DW/P. Böll

Auch hat Mohammed Omar mit Mitgliedern der ehemaligen Gemeinde gesprochen. Seine Gesprächspartner leben heute alle im Ausland - in Haifa, Tel Aviv, Europa und den USA. Die Älteren unter ihnen erinnern sich noch an die Stadt. Omar weiß, dass er sich beeilen muss. Denn sind diese Menschen einmal gestorben, werden mit ihnen auch ihre Geschichten verschwunden sein.

Jüdische Identität im Irak

Bevor sie Stadt und Land verlassen mussten, pflegten die meisten Juden gute Beziehungen zu den anderen Bürgern - auch zu den lokalen Eliten. Ebenso hatten sie oftmals christliche und muslimische Geschäftspartner. Zu jenen Juden, die damals grenzüberschreitenden Handel trieben, gehört etwa der 2003 verstorbene Vater von Dena Attar. Er wurde 1914 in Mossul als Sohn eines jüdischen Gewürzhändlers und einer kurdisch-jüdischen Mutter geboren. In den 1980er Jahren habe sie eine Korrespondenz mit ihrem Vater über jene Jahre geführt, sagt Dena Attar heute. Sie selbst lebte damals in London, ihr Vater in Israel.

Denas Vater verließ das Land vor dem Zweiten Weltkrieg, um in London zu studieren. Möglich war das, weil der ältere Bruder seines Vaters, ein Rabbiner, erklärt hatte, es sei "Sünde", den Jungen im Alter von 12 Jahren von der Schule zu nehmen, um ihn im väterlichen Geschäft arbeiten zu lassen.

"Er sah sich in erster Linie als Jude"

Die jüdischen Schulen von Mossul konnten ihren Schülern in jener Zeit der Stadt nur ein begrenztes Ausbildungsniveau anbieten. Darum besuchte Attars Vater eine muslimische Schule in Mossul. Die verschiedenen Glaubensgruppen hätten sich zwar vermischt, erzählte er seinerzeit seiner Tochter. Das aber habe auch zu Zwischenfällen geführt. So etwa, wenn Juden während der Feiertage zu Jom Kippur barfuß durch die Stadt gingen und Jugendliche anderer Konfessionen Glasscherben auf die Straße streuten. Während die Juden von Bagdad 1941 Opfer eines Pogroms, des so genannten "Farhud", wurden, konnten sich die Juden aus Mossul schützen: Einem jüdischen Angestellten des irakischen Telegraphendienstes war es gelungen, die Gemeinde rechtzeitig zu warnen.

"Er war sehr stolz auf seine Eltern", erinnert sich Attar an ihren Vater. "Beide waren Analphabeten. Doch mein Großvater reiste bis nach Saudi-Arabien, um seine Spezialsalbe für Kamele zu verkaufen. Er lernte sogar den dortigen lokalen Dialekt." Der Irak sei ein von Ausländern entworfener Staat, sagt Attar heute. Darum hätte Nationalität ihrem Vater nicht viel bedeutet. "Er hat sich in erster Linie als Jude gesehen." Als er 2003 verstarb, war er 89 Jahre alt.

Trümmerfeld: Szene aus Mossul von 2018, ein Jahr nach der Befreiung vom "Islamischen Staat" (IS)Bild: Khalil Dawood/Xinhua News Agency/picture-alliance

"Nicht zulassen, dass IS-Herrschaft wieder passiert"

Um Geschichten wie diese aufzubewahren, zeichnete Omar Mohammed die über das Internet geführten Interviews auf, bearbeitete sie und fügte ihnen dann historischen Kontext hinzu. Zusammen mit den digitalisierten Dokumenten bilden sie ein digitales Museum, das Forschern eine Menge neuen Materials bietet. Omar Mohammed ist aus Gründen seiner persönlichen Sicherheit nach Europa gezogen. Er verfügt über keine größeren finanziellen Mittel und genießt auch keinerlei Unterstützung. An seinem virtuellen Museum arbeitet er parallel zu seiner Promotion.

Sein Museum sieht er in erster Linie als Geschenk an seine Stadt. "Es ist der Gesellschaft von Mossul gewidmet. Damit haben wir eine verlässliche Erzählung, die wir an die nächste Generation weitergeben können. Denn wir können nicht zulassen, dass so etwas wie die IS-Herrschaft hier noch einmal passiert."