1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Mossul: Explosionsgefahr ein Jahr nach der Befreiung

9. Juli 2018

Die Altstadt von Mossul liegt in Trümmern. Vom 'IS' zurückgelassene Sprengfallen und amerikanischer Kriegsschrott sind eine tödliche Gefahr. Dennoch kehren immer mehr geflohene Einwohner in die irakische Stadt zurück.

Irak Reportage "Mossul 1 Jahr nach der Befreiung" | "IS"-Sprengstoffgürtel
Sprengstoffgürtel des 'IS' zwischen TrümmernBild: DW/S. Petersmann

Das Zwitschern der Vögel passt nicht in diese unwirkliche, menschengemachte Landschaft aus Häuserskeletten und tiefen Kratern. Aus den Trümmern ragen Metallknäuel hervor – Autos, die sich durch die Hitze der Luftangriffe während der Entscheidungsschlacht um Mossul vor einem Jahr in zusammengeschmolzene Schrottkugeln verwandelt haben, an denen heute der Rost nagt.

Die leichte Brise, die an diesem heißen Sommertag durch die Altstadt in der westlichen Hälfte von Mossul weht, verstärkt den Verwesungsgeruch, der nur schwer zu ertragen ist. Wie viele Menschen hier getötet wurden, ist unklar. Vorliegende Schätzungen schwanken zwischen 10.000 und 40.000 Opfern. Bis heute werden Leichen aus den Trümmern geborgen.

Pulverisierte Altstadt

Zahra Abdul Qaders Familie hat fast bis zum letzten Tag der dreijährigen 'IS'-Herrschaft in der Altstadt von Mossul im Nordirak ausgeharrt. Die vierfache Mutter erinnert sich an Hunger, an Bombennächte voller Angst und an den fürchterlichen Häuserkampf. An Scharfschützen und zischende Geschosse, die Wände durchschlagen. Erst als die irakische Armee mit amerikanischer Luftunterstützung ihre Straße eroberte, wagte die Familie die Flucht über den Tigris in den schon befreiten Osten der Stadt.

Rückkehrerin Zahra hat Angst um ihre KinderBild: DW/S. Petersmann

In Ost-Mossul sieht es in weiten Teilen so aus, als hätte es nie Krieg gegeben. Doch sobald man den Fluss Tigris Richtung Altstadt im Westen überquert, werden die Bilder apokalyptisch. Die Befreiung Mossuls von der Herrschaft des selbsternannten 'Islamischen Staates' hatte einen hohen Preis. Die Altstadt der irakischen Millionenmetropole ist pulverisiert.

Die Mieten im unversehrten Osten sind hoch, Zahra und ihr Ehemann Ahmed hatten ihr angespartes Geld schnell aufgebraucht. Die Familie ist wegen ihrer finanziellen Not vor kurzem wieder in die Ruinen im Westen zurückgezogen. Das Obergeschoss ist zerbombt, doch zwei Zimmer im Erdgeschoss sind nutzbar, seit der Schutt weggeräumt ist. Wasser und Strom gibt es nicht. Dafür einen Gaskocher und eine Autobatterie. Ahmed arbeitet als Gemüseverkäufer auf dem Markt und zieht morgens mit einem Handkarren los. Ein paar Geschäfte und Märkte haben in der Trümmerlandschaft schon wieder eröffnet.

Lebensgefährliche Metallkugeln

Zahra lässt unterdessen ihre vier kleinen Kinder nicht aus den Augen. "Ich laufe ihnen ständig hinterher. Ich lass sie nie alleine nach draußen auf die Straße, ich habe große Angst um sie." Im Nachbarhaus hat der Zivilschutz unter den Trümmern erst vor ein paar Tagen ein nicht explodiertes Mörsergeschoss entdeckt. "Ich wünsche mir, dass hier alles wieder so wird wie früher. Dass unsere Häuser und Moscheen wiederaufgebaut werden. Ich will einfach nur ein ganz normales Leben in Ruhe und Frieden", sagt Zahra.

Tödliches Kriegserbe im Irak

04:22

This browser does not support the video element.

Die Altstadt am Ufer des Tigris war die letzte Hochburg des selbsternannten 'Islamischen Staates' in Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak. Von hier aus hatte 'IS'-Chef Abu Bakr Al-Baghdadi im Juni 2014 sein 'Kalifat' ausgerufen. Damals lebten etwa zwei Millionen Menschen in Mossul, vor allem die Altstadt war dicht besiedelt. Heute ist hier keine Gasse unversehrt. Hier, im historischen Stadtkern am Tigris-Ufer, hatten sich die Kämpfer des 'Kalifats' auf ihrem Rückzug verbarrikadiert.

Die Spuren des Häuserkampfes sind noch immer sehr sichtbar. Vor einem ausgebombten Haus liegen neben stinkenden Decken und rostigen Konservendosen ein paar Handy-Ladekabel und eine Autobatterie im Schutt. Ein paar Schritte weiter finden sich kleine Funksprechgeräte, eins ist in einem gewölbten Fenstersims abgelegt. Darunter Patronenhülsen und das leergeschossene Magazin einer Kalaschnikow. Etwas weiter links liegen eine Miniaturausgabe des Koran und eine ausgebleichte, zerrissene Schutzweste auf dem Boden. Gut möglich, dass die Weste Sprengstoff und Metallkugeln enthält. Käme es zu einer Explosion, würden diese Kugeln sich sofort in lebensgefährliche Geschosse verwandeln.

Spuren des HäuserkampfesBild: DW/S. Petersmann

Industrielle Produktion

"Wir finden hier absolut alles in einer phänomenalen Größenordnung", sagt Mark Warburton so trocken, wie es nur Briten können. Der ehemalige Soldat ist Einsatzleiter beim privaten Kampfmittelräumdienst Optima, der in Mossul im Auftrag des Minenaktionsprogramms der Vereinten Nationen (UNMAS) nach Sprengfallen und Kriegsschrott sucht. "Die Bedrohung reicht von 500 Pfund Flieger-Bomben bis zu den improvisierten Granaten, Mörsern, Raketen und Sprengstoffgürteln des 'IS'."

Warburton hat viel Erfahrung in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt gesammelt. Doch das Ausmaß dessen, was er in der Altstadt von Mossul vorfindet, überrascht selbst ihn. "Die improvisierten Sprengfallen sind wie in anderen Konfliktregionen auch sehr gut gebaut, aber hier kommt hinzu, dass der 'IS' sie wie in einer industriellen Serienproduktion hergestellt hat. Das waren nicht nur ein paar Leute hier und da, das war eine ganz eigene Industrie."

Sprengstoffexperte Mark WarburtonBild: DW/S. Petersmann

Zwischen Anfang Dezember 2017 und Ende Mai 2018 haben Mark Warburton und seine Männer in 790 Einsätzen in der Altstadt von Mossul rund 33.500 explosive Gefahren beseitigt – darunter 610 Sprengstoffgürtel. "Etwa 300 der Gürtel mussten wir von den Leichen der Kämpfer entfernen und entschärfen", berichtet Mark Warburton. "Das ist keine angenehme Aufgabe, aber die Explosions-Gefahr muss beseitigt werden, um Sicherheit für andere herzustellen."

Der Krieg nach dem Krieg

Der gemeinsame Gang durch die ausgebombte Altstadt führt an zehn weißen Leichensäcken vorbei. Nach ein paar Schritten stößt das Räumteam auf einen neuen Sprengstoffgürtel, den ein Unbekannter auf einem Schutthaufen abgelegt hat. Einsatzleiter Warburton schüttelt den Kopf. "Ich bin diese Strecke heute Morgen schon einmal abgelaufen. Da haben uns Anwohner acht improvisierte Granaten übergeben, und jetzt finden wir diesen Sprengstoffgürtel, der heute Morgen noch nicht da gelegen hat. Das ist die Gefahr, in die geflohene Einwohner zurückkehren."

Insgesamt sollen rund eine Million Menschen aus Mossul geflohen sein,  allein 700.000 aus dem zerstörten Westteil der Stadt. Doch die Räumteams von UNMAS sind nur für die Kampfmittelbeseitigung im öffentlichen Raum zuständig - nicht für die in den Ruinen privater Wohnhäuser. Dafür reichen die finanziellen Mittel der Vereinten Nationen nicht. 

Gefährliche Suche nach der explosiven GefahrBild: DW/S. Petersmann

In Mossul sind derzeit vier Räumteams für UNMAS im Einsatz. Weil es noch 'IS'-Schläferzellen gibt, arbeiten die 60 Männer unter bewaffnetem Schutz. Sie entschärfen dort, wo es um die Wiederherstellung der Wasser- und Stromversorgung und um den Zugang zu Bildung und medizinischer Hilfe geht. Der Wiederaufbau der Infrastruktur lockt auch Bewohner an, die es satt haben, in Flüchtlingslagern auszuharren oder die sich die teuren Mieten im Ostteil Mossuls nicht länger leisten können. Ob in den Ruinen ihrer Häuser Sprengfallen lauern, wissen sie nicht. "Ich bin froh, dass der Krieg vorbei ist. Es ist hier jetzt sicherer. Aber diese leeren Ruinen machen uns Angst, und da liegen auch immer noch Leichen drin", sagt Rückkehrerin Zahra.

Die sogenannte finale Schlacht zur Befreiung der Stadt dauerte neun Monate – von Oktober 2016 bis Juli 2017. Es war eine der schwersten urbanen Schlachten seit dem Zweiten Weltkrieg. "Es wird Jahrzehnte dauern", Mossul von der Explosionsgefahr zu befreien, glaubt Kampfmittelräumer Mark Warburton. "Sie sind Deutsche, und ich bin Brite. Wir finden heute noch Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg, richtig?"

So sehen die meisten Häuser in der Altstadt ausBild: DW/S. Petersmann

Sein Blick schweift über die entsetzliche Trümmerlandschaft der Altstadt. Fast acht Millionen Tonnen Schutt sollen es sein. Dazwischen Fliegerbomben in metertiefen Kratern, nicht explodierte Autobomben, Mörser, Granaten, Sprengstoffgürtel und verlockende Teddybären mit Sprengstoff im Bauch. Dazu feine Drähte, Schalter und Zünder, die auf bis zu fünf Meter lange Trittleisten montiert sind. Die Sprengfallen sind im Schutt kaum sichtbar. Ein Schritt reicht. Genauso wie der Griff zur verlockenden Wasserflasche, die mit einem Zünder verbunden ist. "Was wir hier im Irak lernen, wird uns in den nächsten Einsätzen helfen. In Syrien zum Beispiel", sagt Mark Warburton, bevor er sich zurückzieht, um den Sprengstoffgürtel zu entschärfen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen