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PolitikNahost

Hoffnung auf überkonfessionelle Regierung

Cathrin Schaer
21. Januar 2022

Im Irak werden pro-iranische Kräfte verdächtigt, die angestrebte Regierungsbildung mit Hilfe von Gewalt und Drohungen beeinflussen zu wollen. Doch politische Beobachter sehen auch Anlass für Optimismus.

APTOPIX Iraq Elections
Anhänger des Wahlsiegers Muktada al-Sadr mit einem Poster des Geistlichen, Bagdad 2021Bild: Khalid Mohammed/AP/picture alliance

Attacken auf US-Stützpunkte oder Konvois, aber auch Granatenangriffe auf Büros sunnitischer und irakisch-kurdischer politischer Parteien in Bagdad: Im vergangenen Monat hat die politische Gewalt im Irak wieder zugenommen.

Sie riss auch in den vergangenen Tagen nicht ab: Am Sonntag (16.1.) wurden Granaten auf zwei in kurdischem Besitz befindliche Banken in der Hauptstadt abgeschossen, am Montag griffen Bewaffnete das Haus eines schiitisch-muslimischen Geistlichen in der Provinz Muthanna an. Gleich zu Jahresbeginn war ein hochrangiges Mitglied einer schiitischen paramilitärischen Gruppe in der südöstlichen Provinz Maysan einem Mord zum Opfer gefallen.

Der Zorn der Verlierer

So unterschiedlich die Ziele auch sind, eines haben sie gemeinsam: Alle Angegriffenen und Ermordeten habe durch ihr Verhalten den Unmut der Verlierer der Parlamentswahlen vom Oktober letzten Jahres auf sich gezogen.

Ungeachtet ihrer Niederlage streben die bei den Wahlen unterlegenen Parteien die Macht in der nächsten Regierung an. Zwar hat sich bislang niemand zu den Anschlägen bekannt. Doch Beobachter gehen davon aus, dass die Angreifer vor allem ein Ziel haben: die Wahlergebnisse mit Gewalt außer Kraft zu setzen. Entsprechend nahmen die Angriffe angesichts der nahenden Regierungsbildung in den vergangenen Wochen zu.

Als Sieger aus den Parlamentswahlen war das Bündnis Sairun ("Vorwärts") des bekannten schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr hervorgegangen. Es errang 73 der insgesamt 329 Parlamentssitze.

Zum Verlierer der Wahl wurde das Bündnis Fatah ("Eroberung", "Sieg"). Dieses hat seine Wurzeln zwar ebenfalls im Schiitentum, steht aber mit den paramilitärischen "Popular Mobilization Forces" (PMF), in Verbindung. Die PMF gelten als Proxy-Kräfte des Nachbarn Iran. Bei den jüngsten Wahlen konnte die Fatah nur 17 Sitze  erringen - beim vorhergehenden Urnengang war sie noch auf 48 Sitze gekommen.

Politische Gewalt: Anschlag in Bagdad, Januar 2022Bild: Murtadha Al Sudani/AA/picture alliance

Verbindungen in den Iran

Die PMF waren ursprünglich von schiitischen Freiwilligen gegründet worden, die sich anboten, das Land gegen die als "Islamischer Staat" (IS) bekannte Terrorgruppe zu verteidigen. Anfangs wurden die PMF-Kämpfer als Helden verehrt. Inzwischen aber sind sie bei vielen einfachen Irakern unbeliebt - vor allem, weil viele PMF-Kämpfer sich nach Ansicht ihrer Kritiker dem Nachbarn Iran gegenüber loyaler zeigen als ihrem eigenen Land. Der Iran - offiziell eine "Islamische Republik" und nach eigenem Verständnis zugleich schiitische Führungsmacht in der Region -  hatte die Milizen während des Kampfes gegen den radikal sunnitisch orientierten IS finanziell, logistisch und ideologisch unterstützt.

Seit einiger Zeit jedoch spalten sich die schiitischen Paramilitärs in zwei Gruppen: Die eine ist trotz gegenteiliger Beteuerungen faktisch weiterhin vor allem dem Iran ergeben, während die andere stärker auf nationale irakische Loyalität setzt. Zu dieser Gruppe zählen auch die mit al-Sadr verbündeten Milizen, die sowohl einen starken iranischen wie auch amerikanischen Einfluss im Lande ablehnen.

Abschied vom Konfessionalismus?

Traditionell spielten konfessionelle Zugehörigkeiten bei Regierungsbildungen im Irak  stets eine herausragende Rolle. So schlossen sich regelmäßig schiitische Politiker zusammen, um gemeinsam einen Präsidenten zu wählen, der dann einen Premier ernannte. Dieser Mechanismus kommt nun womöglich an ein Ende.

Rivalitäten zwischen schiitischen Gruppen seien seit geraumer Zeit "die größte Bedrohung für die schiitisch dominierte, sektiererische Ordnung des Irak", sagt der Politologe Fanar Haddad von der Universität Kopenhagen im DW-Interview. "Diese Rivalitäten sind nicht neu, aber sie waren selten so akut wie zuletzt."

Die politische Landschaft ändere sich und lasse sich nicht mehr durch das Prisma der Identitätspolitik und Appelle an kommunale Solidarität steuern, so Haddad.

Tatsächlich hat der schiitische Wahlsieger al-Sadr wiederholt erklärt, er wolle eine Mehrheitsregierung bilden, die womöglich die anderen, pro-iranischen Schiitenparteien ausschließt. Zu diesen gehört auch die Fatah.

Anfang Januar unternahm al-Sadrs Bündnis zusammen mit kurdischen und sunnitischen Politikern den ersten Schritt zur Bildung einer neuen Regierung: Sie wählten den Sunniten Mohamed al-Halbusi erneut zum Parlamentspräsidenten.

Den transkonfessionellen Charakter seiner Politik bestätigte al-Sadr dieser Tage noch einmal auf Twitter. "Weder östlich noch westlich. Eine nationale Mehrheitsregierung", beschrieb er den Charakter der zu bildenden Regierung. Gemeint mit den Himmelsrichtungen waren zum einen der Einfluss des Iran - und zum anderen der der USA.

Umstritten: Milizen der schiitischen "Popular Mobilization Forces" (PMF) in der Stadt Diyala, Juni 2021Bild: ASSOCIATED PRESS/picture alliance

Ausländische Einflüsse

Die Angriffe der vergangenen Wochen gelten Beobachtern als Hinweis auf die Empörung der Fatah über den sich abzeichnenden Ausschluss aus der nächsten Regierung. "Auch wenn sich bisher niemand zu den Anschlägen bekannt hat und die Führer der Fatah und der PMF die Anschläge verurteilen, scheint mir die jüngste Eskalation der Gewalt eine Art Verhandlungsstrategie zu sein", sagt David Labude, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Irak- und Syrien-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz im Libanon. "Die Fatah hat nicht die nötigen Stimmen erhalten und richtet sich nun auf diese Weise an die Verhandlungsführer der Regierung."

Einer der angegriffenen sunnitischen Politiker erklärte irakischen Medien, er habe auch zu Hause Drohungen erhalten. So habe er einen Brief vor seiner Haustür gefunden. Darin hieß es, eine nationale Mehrheitsregierung werde viele Konsequenzen für ihn haben. Außerdem habe man ihm geraten, sich aus den Verhandlungen mit al-Sadr zurückzuziehen und sich nicht in die schiitische Politik einzumischen.

Versuche, das rechtmäßige Wahlergebnis durch Einschüchterung und Gewalt zu kippen, schwächen die derzeit keimende Hoffnung, das neue Parlament könnte endlich die gesamte irakische Bevölkerung repräsentieren - zumal auch neue Streitigkeiten zwischen den zwei dominierenden kurdischen Parteien ausgebrochen sind. 

Erste Sitzung nach der Wahl: Zusammenkunft des irakischen Parlaments, Januar 2022Bild: Iraqi Parliament Press Office/Handout/AA/picture alliance

Am Scheideweg

Offen ist nun, wohin sich das Land entwickeln wird: hin zu mehr Gewalt und im schlimmsten Fall zu einem möglichen Bürgerkrieg sogar zwischen bewaffneten schiitischen Fraktionen - oder hin zu mehr echter Demokratie, ohne faktisch übergeordnete konfessionelle Loyalitäten.

"Ich denke, das wahrscheinlichste Ergebnis liegt irgendwo zwischen diesen beiden Extremen", sagt Politik-Analyst Fanar Haddad. "Die politische Gewalt wird sich fortsetzen und möglicherweise eskalieren. Doch scheint mir eine Einigung wahrscheinlicher als ein neuer Bürgerkrieg. Es gibt zu viel zu verlieren, als dass persönliche Rivalitäten einer Einigung im Wege stehen könnten".

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.