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Gesellschaft

Mossul: Versöhnung (un)möglich?

9. Juli 2018

Der "Islamische Staat" (IS) konnte die irakische Stadt Mossul drei Jahre lang beherrschen, weil er in der Bevölkerung Unterstützung hatte. Wie leben Opfer und Täter heute zusammen - ein Jahr nach der Befreiung?

Irak Reportage "Mossul 1 Jahr nach der Befreiung" | Ahmad Mohammed Abdulrahman
Nachbarschaftsbürgermeister Ahmed Mohammed Abdulrahman Bild: DW/S. Petersmann

Die Begrüßung? Im Schnellverfahren. Die erste Frage? Noch gar nicht gestellt. "Das IS-Problem wird uns noch hundert Jahre begleiten", platzt es ungefragt aus Ahmed Mohammed Abdulrahman heraus. Der temperamentvolle 46-Jährige mit den riesigen Händen empfängt nicht zum ersten Mal Journalisten. Er genießt die Aufmerksamkeit sichtlich. Abdulrahman ist der "Mukhtar" – der gewählte Nachbarschaftsbürgermeister im zerstörten Altstadtviertel Hamam Manqusch in Mossul. "Die Kinder von IS-Familien und die Kinder der anderen Familien streiten ständig. Ohne jeden Grund. Es gibt hier schon genug Probleme", poltert Abdulrahman mit lauter Stimme und fügt an: "Die Streitigkeiten werden nur größer, wenn noch mehr IS-Familien zurückkommen."

Die grüne Kuppel

Das Altstadtviertel Hamam Manqusch ist nur wenige hundert Meter von der zerbombten Al-Nuri-Moschee entfernt. Von hier aus hatte Abu Bakr Al-Baghdadi, der Kopf des selbsternannten "Islamischen Staates", im Juni 2014 sein Terror-'Kalifat' ausgerufen. Heute liegen Moschee und Nachbarschaft in Trümmern. Nur die grüne Kuppel der Moschee ist wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Nach der letzten Schlacht im vergangenen Sommer war jemand auf die Kuppel geklettert, um in Großbuchstaben "F*** ISIS" draufzuschreiben. Auch in den engen Gassen von Hamam Manqusch finden sich solche Botschaften. "ISIS – wir wollen dein Blut", hat jemand in roter Farbe auf eine Hauswand gepinselt.

Die zerstörte Al-Nuri-Moschee von MossulBild: DW/S. Petersmann

Vor dem Krieg sollen in dem Viertel rund 400 Familien gelebt haben. Etwa die Hälfte von ihnen habe ab Sommer 2014 den IS unterstützt, schätzt Nachbarschaftsbürgermeister Ahmed Mohammed Abdulrahman. Der gelernte Schneider harrte mit seiner Familie bis zum Schluss aus. "Das Leben war unendlich schwer", erinnert er sich. Die Menschen seien durch Bomben und Geschosse gestorben oder verhungert. "Die IS-Kämpfer haben sogar auf Flugzeuge geschossen, die waren krank im Kopf".

Der IS benutzte die Zivilbevölkerung als Schutzschild und schoss auf Flüchtende, doch die irakische Armee und verbündete Milizen rückten trotzdem weiter vor, unterstützt von massiven Luftangriffen der USA. "Als der IS immer mehr Viertel verlor, haben die Kämpfer uns weiter eingeredet, dass sie unbesiegbar seien", berichtet Abdulrahman. "Unser Problem war, dass die alle schwachen Leute absolut unter Kontrolle hatten."

Die Schuldfrage

Jetzt, ein Jahr nach der Befreiung, sind 75 Familien in die Trümmerlandschaft von Hamam Manqusch zurückgekehrt, und das Misstrauen zwischen den Menschen ist groß. Keiner will den IS unterstützt haben, keiner will ein Sympathisant gewesen sein, während Opferfamilien auf der Suche nach Schuldigen sind, die sie für ihren entsetzlichen Verlust verantwortlich machen können. Irgendeiner muss doch schuldig sein!

In der zerstörten Altstadt geht es auch um Frage, wer schuldig ist und wer nichtBild: DW/S. Petersmann

Omar Mohsin ist ein gebrochener Mann. Seiner kleiner Sohn Khaith (9) wurde von einem IS-Scharfschützen erschossen, wenig später kam die gesamte Familie seines Bruders bei einem Luftangriff ums Leben. In das Haus nebenan will jetzt eine Familie zurückkehren, die das IS-Regime unterstützt haben soll. "Das darf nicht passieren", klagt Omar Mohsin. "Auf gar keinen Fall! Was haben meine Kinder verbrochen? Wieso will diese Familie jetzt in unsere Nachbarschaft zurückkommen?" Omar Mohsin lebt heute mit seiner betagten Mutter zusammen. Die zerbrechliche ältere Frau presst unter Tränen hervor: "Ich schwöre zu Gott, dass unsere Familie nie irgendjemandem irgendetwas angetan hat. Warum haben sie unsere ganze Familie ausgelöscht?" Auch sie ist gegen die Rückkehr der ehemaligen Nachbarn.

Täter und Mitläufer 

Bürgermeister Abdulrahman spendet beim Hausbesuch Trost und versichert, sein Bestes zu tun. Sein Wort hat Gewicht. Der "Mukhtar" füllt auch Formulare für die Sicherheitsbehörden aus - für Militär, Polizei und Geheimdienst. Jede Familie wird vor der Rückkehr überprüft. Es geht darum, abgetauchte Kämpfer und Bürokraten des Terrorregimes aufzuspüren. Derzeit sollen in Hamam Manqusch etwa 20 Familien leben, die von anderen beschuldigt werden, mit dem IS zusammengearbeitet zu haben. Reden wollen diese Familien nicht. Das Klopfen an der Tür bleibt unbeantwortet.

Das Altstadtviertel Hamam Manqusch ist zerstörtBild: DW/S. Petersmann

Das System lässt Spielraum für Denunziationen und Korruption. Das Justizsystem garantiert keine Rechtsstaatlichkeit."Für mich ist entscheidend, dass die anderen eure Rückkehr akzeptieren. Nur dann kann ich euch die Rückkehr erlauben", sagt Abdulrahman am Handy zu einer Frau. Dann hört er eine Weile zu und legt nach: "Ich muss dir leider sagen, dass die anderen dich hier nicht sehen wollen. Du hattest IS-Mitglieder in deiner Familie, auch wenn du das Gegenteil behauptest." Das Urteil des "Mukhtar" ist gefallen. Derzeit wollen etwa drei Familien pro Woche zurückkehren, berichtet er. Doch ohne Sicherheitscheck läuft gar nichts.  

Der energische Bürgermeister ist viel in Bewegung. Er hat mehrere selbsternannte Assistenten, die mit Funkgeräten ausgestattet sind und Kontakt zu den allgegenwärtigen Checkpoints des Militärs und der Milizen halten. Es geht um die Zuteilung von Wassertanks, um Nahrungsmittelrationen und um das Wegräumen von Trümmern. Aber vor allem geht es um die Einordnung, wer Opfer, Täter und Mitläufer war. Mit den Tätern könne es keine Versöhnung geben, glaubt Abdulrahman. Aber man könne auch nicht alle wegsperren, fügt er an. "Das Problem ist doch, dass die Leute hier viel zu viel Zeit zum Nachdenken haben. Sie haben nichts zu tun. Wir müssen dringen Arbeitsplätze schaffen, damit wir die Menschen auf andere Gedanken bringen. Wenn du nur in der Vergangenheit lebst, wiederholt sie sich." 

'Wiederaufbau' in den Köpfen

Zugesteckte Süßigkeiten im Familiengeschäft. Oder Verkäuferin spielen: Naram Muhamad verbindet mit der Altstadt von Mossul schöne Kindheitserinnerungen. Ihr Vater hatte hier vor dem Krieg ein gut gehendes Lebensmittelgeschäft. Die 24-jährige Informatikstudentin erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie im vergangenen Herbst zum ersten Mal mit ihrem Vater in die Trümmerlandschaft zurückkehrte. Naram lebt mit ihrer Familie im Ostteil der Stadt. Hier, östlich des Tigris, sieht Mossul in vielen Vierteln so aus, als hätte es den Krieg nie gegeben.

Naram Muhamad setzt sich für Versöhnung einBild: DW/S. Petersmann

In Narams Stimme schwingt noch immer Ungläubigkeit mit. "Als ich das erste Mal in die Altstadt zurückgekehrt bin, war ich anschließend drei Tage krank. Ich war zu geschockt um zu weinen."

Die junge Frau hat unter der IS-Herrschaft ihr Elternhaus in Ost-Mossul kaum verlassen. Und wenn, dann nur in Begleitung ihres Vaters. Zu studieren war ihr verboten. "Die drei IS-Jahre waren wie ein großes Gefängnis für mich", sagt sie. "Ich habe unendlich viel gelesen, so viel ich nur irgendwie konnte. Ich wollte Verbindung zum Rest der Welt halten."

Heute geht Naram wieder jeden Tag zur Universität. Das weitläufige Gelände ist vom Krieg gezeichnet. Die US-Luftwaffe hat mehrere Gebäude bombardiert. Die zentrale Bibliothek, früher eine der größten des Irak, ist ausgebrannt, weil der IS sie in Brand steckte. "Gebäude kann man wiederaufbauen, wenn man das nötige Geld hat. Mit den Köpfen ist das viel schwieriger", sagt Naram. "Wir müssen die Seelen der Menschen erreichen. Wir müssen lernen, frei zu denken."

Naram organisiert politische Gesprächsrunden für Frauen, sie engagiert sich an der Uni und in einem alternativen Büchercafé, in dem regelmäßig Lesungen zu sozialen und politischen Themen stattfinden. Ihr Leben ist wieder weitgehend normal, doch sie weiß um die Konflikte in ihrer Heimatstadt, vor allem im zerstörten Westteil. "Ja, wir haben uns gegenseitig verletzt und ermordet. Wir haben uns gegenseitig unsere Rechte genommen. Und jetzt müssen wir lernen, darüber zu reden", fordert die junge Aktivistin.

Die nächste Generation

Auch nach der Befreiung gilt die Stadt Mossul in anderen Teilen des Irak weiter als IS-Hochburg. Neben 40.000 ausländischen Kämpfern schlossen sich auch mehrere zehntausend einheimische Iraker dem IS an, und nicht wenige stammten aus dem Großraum Mossul.

Auf die Wand gesprüht: "ISIS -wir wollen dein Blut!"Bild: DW

Die staatlichen Anti-Terror-Sondertribunale verhängen regelmäßig Todesurteile gegen mutmaßliche Kollaborateure und Sympathisanten. Oft in Schnellverfahren, die nur wenige Minuten dauern. Wie viele mutmaßliche IS-Mitglieder derzeit in irakischen Gefängnissen sitzen, ist schwer zu sagen. Die Regierung hält die Zahlen zurück. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ging im vergangenen Dezember von mindestens 20.000 aus.

Studentin Naram aus Mossul mahnt Versöhnung an. Racheakte und Siegerjustiz seien der falsche Weg. "Es gibt verschiedene Stufen der Schuld. Wenn wir jetzt alle, die mit dem IS zu tun hatten, zurückweisen, sorgen wir dafür, dass eine neue Generation von Extremisten heranwächst."