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PolitikNahost

Irak: Was tun gegen häusliche Gewalt?

Cathrin Schaer
9. Februar 2023

Die Ermordung einer jungen Bloggerin durch ihren Vater hat die Debatte über den Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt im Irak neu entfacht. Aktivistinnen zufolge braucht es dazu mehr als nur Gesetze.

Kundgebung in Bagdad gegen Mord und Gewalt
Gegen Mord und Gewalt: Kundgebung in BagdadBild: AHMAD AL-RUBAYE/AFP

Die Mutter hatte gedrängt, und so stattete Tiba Ali ihrer Familie einen Besuch ab. Dafür verließ sie die Türkei, wo sie seit geraumer Zeit lebte, und reiste zurück in ihr Heimatland, den Irak. Dort starb sie Ende Januar - erwürgt von ihrem Vater, wie dieser nach der Tat gestand.

Tiba Ali hatte sich von der Türkei aus einen Namen als Bloggerin gemacht. Auf ihrem Kanal berichtete sie über das vergleichsweise liberale Leben in der neuen Heimat. Außerdem hatte sie vor, einen syrischen Freund zu heiraten. Ihr Vater war gegen diese Bindung.

Unmittelbar nach dem Mord gingen in Bagdad irakische Frauenrechtlerinnen auf die Straße. Sie forderten die lokalen Behörden auf, Frauen besser zu schützen und endlich ein Gesetz gegen häusliche Gewalt zu erlassen. Zwar ist ein solches Gesetz bereits entworfen. Doch seit Jahren hängt es parlamentarisch in der Schwebe. Doch selbst wenn der Irak ein solches Gesetz hätte: Hätte es Ali und die vielen anderen Opfer familiärer Gewalt und sogenannter "Ehrenmorde" retten können?

"Ich glaube nicht, dass ein Gesetz die Gewalt gegen Frauen im Irak völlig verhindern würde, aber es könnte sie reduzieren", sagte Kholoud Ahmad, eine irakische Journalistin in Bagdad, gegenüber der DW. "Wenn die Leute wüssten, dass sie dafür bestraft werden können, oder wenn Frauen in Schwierigkeiten einen Ort hätten, den sie aufsuchen könnten, würde das helfen", sagte sie. "Im Moment hat man aber das Gefühl, dass es keine ernsthafte Bestrafung gibt."

Im Irak sind Frauen in Beruf und Öffentlichkeit zwar durchaus präsent. Doch es gibt kein Gesetz, das sich speziell mit häuslicher Gewalt befasst. Stattdessen bieten die geltenden Gesetze jedem, der ein weibliches Familienmitglied schlägt oder tötet, eine Reihe von Schlupflöchern, um einer Strafverfolgung zu entgehen.

Gesetzlich benachteiligt

Paragraph 398 des irakischen Strafgesetzbuchs besagt, dass bei einem sexuellen Übergriff das Verfahren eingestellt wird, wenn der Vergewaltiger zustimmt, das Opfer zu heiraten. Ein anderer Teil des Strafgesetzbuchs, Artikel 409, sieht für den Fall, dass ein Ehemann seine Frau in Reaktion auf deren Ehebruch tötet, eine Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis vor.

Auch Paragraph 41 benachteiligt Frauen gesetzlich - hier heißt es: "Es liegt kein Verbrechen vor, wenn die Tat in Ausübung eines gesetzlichen Rechts begangen wird". Zu den gesetzlichen Rechten im Irak gehört demnach "die Bestrafung einer Ehefrau durch ihren Ehemann ... innerhalb bestimmter Grenzen, die durch das Gesetz oder den Brauch vorgeschrieben sind."

In einer Erklärung zu Alis Tod forderten die Vereinten Nationen im Irak die irakische Regierung auf, einige dieser Artikel aufzuheben.

Gerichtsgebäude in BagdadBild: AHMAD AL-RUBAYE/AFP

"Im Irak gibt es keinen zentralen und wirksamen Meldemechanismus für Opfer und Überlebende von häuslicher Gewalt oder sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt", sagt Razaw Salihy, Irak-Referentin bei Amnesty International.

Um Anzeige zu erstatten, hätten irakische Frauen nur zwei Stellen, an die sie sich wenden können, so Salihy. Beide seien aber nicht gesetzlich verankert. "Frauen und Mädchen, die bei der Polizei einen Vorfall gemeldet haben, sind meist weiterhin auf das Heim ihrer Familie angewiesen, da es keine Frauenhäuser gibt. Aus Angst vor Konsequenzen verzichten die meisten darum auf eine Anzeige."

Hohe Dunkelziffer vermutet

Entsprechend schwierig ist es, verlässliche Zahlen über häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen im Irak zu erhalten. Offizielle Statistiken sprechen von rund 15.000 Fällen häuslicher Gewalt jährlich. Schenkt man diesen Zahlen Glauben, ist die Rate relativ zur Bevölkerung auch im Vergleich zu den europäischen Ländern nicht sonderlich hoch.

Ein Großteil dieser Art von Gewalt dürfte den Behörden allerdings aufgrund gesellschaftlicher Tabuisierung gar nicht zur Kenntnis kommen. Jüngsten Umfragen verschiedener Organisationen der Vereinten Nationen zufolge würden rund 75 Prozent der Frauen häusliche Gewalt nicht als Verbrechen anzeigen. Außerdem erklärten 85 Prozent der irakischen Männer, sie würden weibliche Familienmitglieder davon abhalten, solche Verbrechen zur Anzeige zu bringen.

Gesetze reichen nicht aus

Selbst wenn es um die offensichtlichste Gewalt gegen Frauen geht - wie etwa im Fall so genannter "Ehrenmorde" - ist es schwer zu ermitteln, wie viele irakische Frauen davon betroffen sind. Denn die Statistiken enthalten oft auch Fälle von Frauen, die durch Selbstmord oder Selbstverbrennung starben. Aktivisten zufolge nutzen Familien solche Begriffe häufig, um Morde zu vertuschen. Die örtlichen Behörden würden dies meist akzeptieren, so die Aktivisten.

"Gesetze allein können die kulturellen Einstellungen nicht ändern", schrieb die britisch-kurdische Aktivistin Ruwayda Mustafah im März 2022 in einem Aufsatz für das Washington Institute for Near East Policy. "Damit sich die kulturellen Einstellungen ändern, braucht unsere Gesellschaft einen nationalen Dialog, der das Thema offen anspricht." Der Irak brauche sowohl gesetzliche als auch gesellschaftliche Veränderungen, so Mustafah.

Kurdenregion als Vorbild? 

Irakisch-Kurdistan - eine halbautonome, überwiegend von Kurden bewohnte Region im Norden des Irak mit eigenem Parlament, Militär und eigener Justiz - geht in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel voran. Die Region hat für derartige Fälle deutlich strengere Gesetze. Bereits 2011 wurde dort das "Gesetz zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt" verabschiedet. Dieses Gesetz sieht lebenslange Haftstrafen für sogenannte "Ehrenmorde" vor. Auch in anderen Fragen, etwa weiblicher Genitalverstümmelung, hat hier bereits vor längerer Zeit ein zumindest partielles Umdenken eingesetzt.

Dennoch gingen die offiziellen Zahlen für häusliche Gewalt und Femizide auch in Irakisch-Kurdistan nicht zurück. Im Gegenteil: Während der COVID-19-Pandemie, also in den Jahren 2020 und 2021, stiegen sie sogar an.

Protest gegen Gewalt an Frauen in Irakisch-Kurdistan, 2008Bild: SHWAN MOHAMMED/AFP

Strafen nach Stammesrecht

Dennoch sei im Jahr 2021 in der Kurdenregion kein einziger Fall von Femizid vor dem städtischen Gerichtssystem verhandelt worden, so die Frauenorganisation für Rechtsbeistand (Women's Organization for Legal Assistance, WOLA).

Verzögerungen im Justizsystem führten zudem häufig dazu, dass weibliche Klägerinnen ihre Anzeige fallen ließen, so WOLA. Verbrechen gegen Frauen hätten leider keine Priorität, heißt es in einem Papier der Organisation.

Ermittlungen würden dagegen mit größerer Dringlichkeit geführt, wenn ein Mann einen anderen Mann töte, erklären andere Aktivisten. Morde und andere Verbrechen werden demnach meist nach dem traditionellen, patriarchalischen Stammesrecht geklärt. Dabei entscheiden die Ältesten zweier Clans, was eine angemessene Entschädigung für das Fehlverhalten wäre.

Das Strafmaß für häusliche Gewalt oder einen Frauenmord kann dann auch davon abhängen, wie mächtig die Stammes- oder politischen Verbindungen des Angeklagten sind.

"Dies sind unsere Frauen": Graffiti in BagdadBild: AHMAD AL-RUBAYE/AFP

Hoffen auf kulturellen Wandel

Niemand wisse mit Sicherheit, ob der YouTube-Star Tiba Ali heute noch am Leben wäre, wenn es im Irak ein Gesetz gegen häusliche Gewalt gegeben hätte, sagt Razaw Salihy von Amnesty International. "Allerdings können wir davon ausgehen, dass es mehr Opfer geben wird, wenn die Apathie des Staates anhält und die Täter weiterhin geschützt werden", sagt Salihy gegenüber der DW: "Wie bei allen Menschenrechtsfragen wird eine Änderung allein nicht hinreichend sein. Bislang aber haben sich die irakischen Behörden geweigert, auch nur einen Schritt zu tun."

Natürlich stünden einem Wandel enorme kulturelle Hindernisse entgegen. "Aber die Aufgabe, diesen Wandel herbeizuführen, wird durch Gesetze oder deren Fehlen behindert", schloss sie.

Und doch gibt es Hoffnungen, dass sich die Einstellungen zu häuslicher Gewalt ändern könnten. Nicht nur Initiativen junger Künstlerinnen und Schauspielerinnen deuten darauf hin - sondern auch eine Umfrage des in Bagdad ansässigen Thinktanks "Al-Bayan Center for Planning and Studies" aus dem Jahr 2020 über ein damals geplantes Gesetz gegen häusliche Gewalt. Demnach unterstützen 89 Prozent der Befragten das geplante Gesetz, 95 Prozent sahen das Schlagen der eigenen Frau als strafrechtlich zu ahndendes Verbrechen an. Rund 77 Prozent der Befragten, die diese Ansichten vertraten, waren zwischen 18 und 29 Jahre alt.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp .

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