Irakische Christen auf der Flucht
15. August 2005Der schlimmste Sandsturm seit Jahrzehnten war nur eines der vielen Hindernisse, die den Vätern der neuen irakischen Verfassung die Arbeit erschwerten. Bis Montagnacht (15.8.2005) soll der Entwurf dem Parlament vorliegen und nach langen Auseinandersetzungen über den Inhalt zeichnet sich ab, dass die Scharia, das islamische Recht, einer der Grundpfeiler der neuen Verfassung sein wird.
Der Islam solle eine "Hauptquelle" sein, dem kein Gesetz widersprechen dürfe, hatte Großayatollah Ali Sistani gefordert. Die Gesetze dürften allerdings nicht die "demokratischen Prinzipien" oder "Grundrechte" verletzen - so sah es zumindest eine ältere Version der Verfassung vor. Mittlerweile ist dieser Passus gestrichen. Maria Haarmann, Referatsleiterin für den Mittleren Osten beim Hilfswerk Misereor findet das bedenklich: "Der Zusatz war wichtig, so fehlt die Auseinandersetzung mit anderen Prinzipien."
Minderheiten fürchten um ihre Rechte
Bei einer stark an der Scharia orientierten Verfassung fürchten vor allem die religiösen Minderheiten im Irak eine massive Einschränkung ihrer Rechte: Rund drei Prozent der knapp 25 Millionen Iraker sind Christen. Die größte Gruppe unter ihnen bilden die Chaldäer, die mit der katholischen Kirche verbunden sind und dort bereits im 2. Jahrhundert nach Christus im alten Mesopotamien ihre ersten Gemeinden gründeten.
Trotz aller Unterdrückung hatte Saddam Hussein - anders als im Iran oder in Saudi-Arabien - Christen und Muslime weitgehend gleich gestellt. Sie genossen religiöse Freiheit, ihre Institutionen wurden über Jahrzehnte sogar staatlich subventioniert. Sogar Privilegien und Minderheitenrechte erhielten die irakischen Christen, allerdings nur so lange sie sich loyal gegenüber dem Regime verhielten.
Christen als Zielscheibe von Terroristen
Mit dem Golfkrieg und dem UN-Embargo setzte im Irak eine Islamisierungswelle ein, nach dem Sturz Saddams mehrten sich die gewaltsamen Übergriffe: Seit Sommer 2003 wurden 300 Christen ermordet, mehr als 25 Kirchen waren Ziel von Bombenanschlägen. In der Folge wanderten allein im Jahr 2004 insgesamt 50.000 Christen nach Syrien und Jordanien aus. Die "Gesellschaft für bedrohte Völker" befürchtet sogar die vollständige Flucht und Vertreibung der noch etwa 800.000 im Irak lebenden Christen.
"Menschen zweiter Klasse"
"Christen werden von radikal-islamischer Seite oft als Hilfstruppen des Westens denunziert. Überdurchschnittlich oft sind sie Opfer von Entführern und Erpressern, weil Vergeltung in Form von Blutrache bei den Christen in der Regel ausbleibt", erklärt Haarmann vom Hilfswerk Misereor.
Sabah Patto hingegen sieht in den Gewalttaten eine gezielte Christenverfolgung im Irak. Er leitet die chaldäische Kirche in Deutschland und kennt als Iraker die alltägliche Diskriminierung und Verletzung von Menschenrechten in seinem Heimatland: "Christen sind im öffentlichen Leben des Irak Menschen zweiter Klasse, es ist die Hölle." Zwar gebe es derzeit eine Religionsfreiheit für Minderheiten, doch im Alltag bauten Islamisten einen gesellschaftlichen Druck auf, so dass sich mittlerweile selbst christliche Frauen und Mädchen verschleierten.
Bei einer stark an der Scharia orientierten Verfassung rechne Patto mit einem regelrechten Exodus der Christen im Irak. Dass die Verfassung allerdings so klerikal werden könnte wie in anderen Ländern, glaubt Haarmann nicht: "Das iranische Modell erscheint nur wenigen irakischen Schiiten erstrebenswert. Inzwischen akzeptiert auch der Großteil des schiitischen Klerus' im Irak ein parlemtarisches System." Problematisch könne es allerdings werden, wenn dem schiitischen Klerus in der Verfassung eine Sonderstellung eingeräumt würde, die ihm ein Interventions- und Vetorechte gibt.
Außerdem könnten sich im Parlament die Machtverhältnisse zugunsten der Fundamentalisten ändern, die dann den Passus der Scharia nach ihrer Sichtweise auslegte würden. Ein solches Szenario hält Haarmann derzeit allerdings für wenig wahrscheinlich: "Trotz des gegenwärtigen starken Gewichts religiös-schiitischer Parteien stellen auch die Schiiten keine homogene, ausschließlich religiös orientierte Gruppe dar, säkulare Kräfte und die Kurden würden sich wehren", vermutet sie. Außerdem dürfe man nicht verkennen, dass es in den vergangenen Wochen heftige aber zugleich konstruktive Diskussionen um die neue irakische Verfassung gegeben hatte: "Das ist letzlich positiv zu bewerten", sagt sie, "denn solche Auseinandersetzungen bedeuten einen großen Schritt in Richtung Pluralismus und Demokratie."