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Politik

Jesiden werfen Bagdad Tatenlosigkeit vor

Judit Neurink tön
7. März 2019

Hunderte verschleppte jesidische Frauen und Kinder werden weiter in den Händen der Dschihadisten vom IS vermutet. Nach Berichten über ein Massaker wächst die Wut der Jesiden auf die irakische Regierung.

Syrien Baghouz Zivilisten fliehen aus letzter IS-Bastion
Bild: Getty Images/AFP/B. Kilic

Nach mehr als anderthalb Jahren in den Händen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) konnten jüngst immerhin 21 irakische Jesiden, zumeist Kinder, zu ihren Familien in Iraks Kurdengebieten zurückzukehren. Nur wenigen war die Flucht aus dem Dorf Baghus gelungen, der letzten verbliebenen IS-Bastion.

Mehr als 6000 Angehörige der religiösen Minderheit hatte der IS 2014 verschleppt - um aus den Frauen Sexsklavinnen, den Männern Kämpfer zu machen. 3000 der verschleppten Frauen, Kinder und Männer bleiben vermisst. Die genaue Zahl der Jesiden, die aus Baghus entkommen konnten,ist unbekannt. Vermutlich ist es kaum ein Dutzend.

Eine von ihnen ist Suaad Daoud. Die 21-Jährige konnte im vergangenen Monat aus der syrischen Enklave und der IS-Familie fliehen, der sie zu dienen hatte. Nun ist sie zurück bei ihren Verwandten in einem jesidischen Lager in Kurdistan. Die erlebten Gräuel scheint sie relativ gut überstanden zu haben .

Die 21-jährige Suaad Saoud konnte sich aus der IS-Gefangenschaft befreien Bild: DW/J. Neurink

Sie weiß, dass viele Frauen und Kinder auch nach ihrer Flucht aus Baghus in IS-Familien leben und sich nicht melden. "Sie haben Angst", sagt Suaad. Als sie das Dorf verließ, widersetzte sie sich ihren Peinigern und gab den syrisch-kurdischen SDF-Truppen ihren jesidischen Namen preis. "Die IS-Kämpfer hatten uns gesagt, dass sie uns töten, wenn wir das tun", erzählt sie.

Dann berichtet sie von der Lebensmittelknappheit in Baghus nach der wochenlangen Belagerung durch die SDF-Koalition. Und noch immer seien jesidische Frauen mit IS-Kämpfern in der Stadt. "Um für sie zu kochen. Und manche sind verheiratet", sagt sie in der Ausdrucksweise, mit der die meisten Rückkehrer nur andeuten, dass die Frauen auch für Sex festgehalten werden.

Nobelpreisträgerin Murad fordert Untersuchungen

Unterstützt werden Suaads Erzählungen von Mirza Dinnayi, einer lautstarken Stimme der Jesiden in Europa. "Immer schon hat der IS Jesiden an die Front gebracht", sagt der jesidische Aktivist, der sich derzeit in Europa aufhält. Er erwähnt Berichte, wonach über Freilassungen verhandelt werde, bevor es zur finalen Schlacht komme. "Aber wie soll man glauben, dass die jemals Wort halten?"

Der jesidische Menschenrechtler Mirza Dinnayi Bild: DW/J. Neurink

Drastisch bestätigt werden diese Zweifel von Berichten über die Enthauptung von 50 Jesidinnen und Videos, die Frauenleichen in kürzlich befreiten Teilen von Baghus zeigen. Dinnayi zufolge gebe es glaubhafte Quellen mit IS-Verbindungen, wonach Führer der Terrormiliz die Hinrichtungen anordneten, um zu verhindern, dass befreite Frauen Informationen preisgeben könnten, aber auch, um die Botschaft zu senden: "Ihr tötet unsere Leute, also töten wir die, die ihr befreien wollt." Dinnayi will das Europäische Parlament dazu bewegen, die getöteten Frauenleichen auf den Bildern identifizieren zu lassen. Zugleich drängt die Friedensnobelpreisträgerin und jesidische Aktivistin Nadia Murad die irakische Regierung, den Fall zu untersuchen.

Bagdads Schweigen sorgt für Wut unter den Jesiden. "Hätten die 50 Frauen einer anderen Religion angehört, wäre es zu riesigen Protesten gekommen", heißt es.

Auch Baba Sheikh, religiöses Oberhaupt der Jesiden, verurteilt das Schweigen und fordert eine Sonderkommission zur Suche nach den Vermissten. Nadia Murad unterstützt diesen Aufruf. "Der IS benutzt die Jesiden als menschliche Schutzschilde", sagte sie. Aus diesem Grund hatte die SDF-Koalition ihren Großangriff bereits mehrfach aufgeschoben.

Angesichts des nahen Endes der verhassten IS-Herrschaft wächst die Sorge der Jesiden um die Vermissten. Murad und Dinnayi sind überzeugt, dass sich noch immer Dutzende Kinder bei IS-Familien in Lagern im kurdischen Teil Syriens aufhalten. Alle Forderungen, nach ihnen zu suchen, seien auf taube Ohren gestoßen. "Die, die helfen wollen, haben keinen Einfluss. Und die mit der nötigen Autorität bleiben an ihren Schreibtischen sitzen", so Dinnayi.

Dutzenden gelang die Flucht aus dem heftig umkämpften Dorf BaghusBild: Getty Images/AFP/B. Kilic

Auch Sally Becker von der britischen Nichtregierungsorganisation Road to Peace berichtet von ihre vergeblichen Versuchen, in irakischen Lagern nach Binnenflüchtlinge zu suchen. Als ihre Organisation 2017 im Irak Vertriebene medizinisch versorgte, fielen ihr die vielen blonden oder rothaarigen Kinder unter den Flüchtlingen aus der einstigen IS-Hochburg Hawija auf. Sie vermutete, es seien Jesiden. "Wir fanden ein Unternehmen aus Den Haag, das kostenlose Verwandtschaftstests anbot", so Becker. Aber die irakische Regierung habe das nicht zugelassen. So verschwanden die Kinder wieder in den Familien. Becker war auch dabei, als es darum ging, die Flüchtlinge aus Baghus mit ihren Verwandten zusammenzuführen. Über ihr Netzwerk teilte sie Bilder in Sozialen Medien. Tatsächlich erkannten manche Verwandte wieder und kontaktierten Becker.

"Reise zurück in die Welt"

Zwei Jungen, so Becker, wurden von ihren Geschwistern erkannt. Die waren Teil eines deutschen Hilfsprogramms, das rund tausend IS-Überlebenden Trauma-Therapien ermöglichte. Auch zwei Schwestern von Suaad Daoud sind in diesem Programm. Sie waren es auch, die Suaad nach ihrer Rückkehr in Empfang nehmen und auf ihrer "Reise zurück in die Welt" begleiten konnten. "Und ich dachte, von meiner Familie sei niemand übriggeblieben", sagt sie.

Als der IS die irakische, überwiegend von Jesiden bewohnte Sindschar-Region eingenommen hatte, töteten die Islamisten tausende Männer und verschleppten tausende Jesiden. Rund 3400 von ihnen, zumeist Frauen und Kinder, konnten fliehen.

Erhielt 2018 den Friedensnobelpreis: Die irakisch-jesidische Menschenrechtlerin Nadia MuradBild: Reuters/C. Hartmann

Dinnayi geht davon aus, dass mindestens tausend der Vermissten getötet wurden. Zudem starben viele junge Männer, die in den Kampf geschickt wurden, an der Front. Hunderte Frauen und Kinder aber, vermutet Dinnayi, leben noch immer versteckt in arabischen Familien in sunnitischen Regionen des Iraks, Syriens oder in Vertriebenenlagern. Unklar bleibt die Zahl der Jesidinnen, die ins sunnitische Ausland, etwa Saudi-Arabien oder Jordanien verkauft wurden.

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