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Politik

Iraks Kurden in der Zwickmühle

22. November 2017

Die kurdischen Träume von staatlicher Unabhängigkeit haben einen mächtigen Dämpfer erhalten. Zerstoben sind sie jedoch nicht. Einen einfachen Weg gibt es nicht für die krisengeschüttelte Region.

Irak Kirkuk verbrannte kurdische Flagge
Bild: Reuters

"Unsere Region exportiert drei Dinge, die Europa etwas angehen: Öl, Flüchtlinge und Terror." Ein Statement zum Mittleren Osten, das ins Schwarze trifft. Und das über moralische Fragen hinaus erklärt, warum es uns interessieren sollte, was im Irak vor sich geht, oder noch spezieller: im Gebiet der kurdischen Regionalregierung. Ausgesprochen am Beginn einer Tagung zur Zukunft des Nordirak in der Evangelischen Akademie Loccum. 

Vielleicht braucht es den nüchternen Rahmen eines von protestantischer Arbeitsethik durchwehten Tagungshauses in ländlicher Umgebung, um Diskutanten aus so unterschiedlichen Lagern friedlich um Antworten ringen zu lassen: kurdische Intellektuelle verschiedener Richtungen, Mitarbeiter von Think-Tanks in der Türkei, im Iran, in Russland, in Israel, ein früherer Botschafter Bagdads in Washington, Vertreter der kurdischen Diaspora, der Jesiden, deutsche Diplomaten und Mitglieder der Bundeswehr. 

Ende einer Insel der Stabilität

Ein knappes Vierteljahrhundert war das irakische Kurdengebiet ein Hort der Stabilität in einer extrem instabilen Region. Jetzt ist es ein Ort von Spannungen, die auch zu Waffengewalt eskalieren. Nach der weitgehenden Vertreibung des sogenannten "Islamischen Staates" aus dem Irak brechen die Gräben zwischen Kurden und der Zentralregierung in Bagdad mit Macht auf, ohne dass wenigstens die innerkurdischen Gräben beseitigt worden wären.

Eine Zäsur war das Unabhängigkeitsreferendum vom 25. September mit der überwältigenden Zustimmung von 93 Prozent der Befragten zu einem eigenen kurdischen Staat. Das war gegen den ausdrücklichen Willen der Zentralregierung in Bagdad durchgeführt worden - und entgegen entschiedener Warnungen der internationalen Staatengemeinschaft. Allein Israel hatte die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden unterstützt. Zum Teil aus strategischen Überlegungen, wie die israelische Kurdenexpertin Ofra Bengio gegenüber der DW anführt. Vor allem aber aus moralischen Gründen: "Wir sind der Meinung, dass die Kurden in ähnlicher Weise wie die Juden gelitten haben. Und wir haben nicht vergessen, dass es die Kurden waren, die über 1000 irakischen Juden die Flucht ermöglicht haben, als Juden im Irak verfolgt wurden", so die Professorin aus Tel Aviv.

Ofra Bengio unterstützt die kurdische UnabhängigkeitBild: DW/M. von Hein

Fehlkalkulation Referendum

Die Kurden, so die überwiegende Meinung der Teilnehmer in Loccum, haben sich mit dem Referendum heftig verkalkuliert. Seither hat sich die Situation der Kurden verschlechtert. Sie haben Gebiete außerhalb des eigentlichen Autonomiegebietes verloren, die sie im Kampf gegen den IS erobert und unter ihre Kontrolle gebracht hatten - darunter die ölreiche Region um die Stadt Kirkuk. Diese Gebiete wurden von schiitischen Milizen, den sogenannten Volksmobilisierungseinheiten, gemeinsam mit irakischen Regierungstruppen für die Zentralregierung in Bagdad besetzt.

Dabei standen sich pikanterweise zwei vom Westen ausgerüstete und ausgebildete Truppen feindlich gegenüber: kurdische Peschmerga und irakische Regierungseinheiten. Dass die im Kampf gegen den IS erfolgreichen Peschmerga ihre Stellungen dann weitgehend kampflos aufgaben, ist für den kurdischen Politikwissenschaftler Muslih Irwani das Ergebnis eines innerkurdischen Streits und Machtgerangels. Im DW-Interview erklärt Irwani, einige kurdische Führer "hätten geheime Absprachen mit der irakischen Regierung und den Volksmobilisierungseinheiten über die Kontrolle der umstrittenen Gebiete getroffen". Dadurch wurde zwar ein blutiger Bürgerkrieg vermieden. Doch für viele Kurden hängt da der allzu vertraute Geruch von Verrat in der Luft.

Zugleich erkennt Irwani an: Der Prozess des Aufbaus einer gemeinsamen Gesellschaft im irakischen Kurdistan ist gescheitert. Dabei hatten die Kurden zweieinhalb Jahrzehnte Zeit, seit sie nach der Einrichtung einer Flugverbotszone 1992 ihre Autonomie kontinuierlich ausbauten. So weit, dass sie bis zum Referendum Ende September eigentlich alle Eigenschaften eines unabhängigen Staates besaßen: Eigene Sicherheitskräfte, eigene Gerichtsbarkeit, Kontrolle über ihre Grenzen, eigene Pässe und sogar eigene Schulbücher.

Kein Dialog mit Bagdad

Gerade deshalb kann Lukman Faily nicht verstehen, dass die kurdische Regionalregierung auf dem Referendum bestand. Der frühere Botschafter des Iraks in den USA betont gegenüber der DW, man habe in Bagdad den Sinn des Referendums nicht verstanden, "geschweige denn die Dringlichkeit, welche die kurdische Nationalregierung Bagdad aufzuzwingen versuchte". Faily gesteht zu, dass es für die Kurden möglicherweise ein günstiger Moment war, den Schritt in die Unabhängigkeit zu wagen: Der Kampf gegen den IS war unter kräftiger Mithilfe der Kurden zumindest militärisch gewonnen, das Image der Kurden in der Welt war positiv, die Zentralregierung in Bagdad war schwach. Aber es war eben kein günstiger Moment für Bagdad: "Wenn man eine gütliche Trennung, eine Win-win-Situation haben will, muss man mit Bagdad diskutieren. Diese Diskussion hat es aber nicht gegeben", kritisiert der selbst kurdisch-stämmige Ex-Botschafter.

Zudem habe die kurdische Regionalregierung die geopolitischen Zusammenhänge falsch gelesen. Und - da trifft sich Faily mit Irwani - die Kurden seien intern noch nicht bereit gewesen für die Unabhängigkeit: "Probleme mit Verwaltung und Transparenz, Mangel an Einheit innerhalb der Peschmerga, bezüglich der Finanzen und so weiter", zählt Faily als Knackpunkte auf. Das Fazit des irakischen Ex-Diplomaten: Das Referendum hat zu einer Explosion und einer Implosion kurdischer Politik geführt. "Explosion in Bezug auf Geopolitik und die Beziehungen zur Türkei, Iran, Bagdad, den USA und den Ländern der EU. Und Implosion im Sinne des Fehlens von Zusammenhalt und guter Regierungsführung."

Mächtige Nachbarstaaten: Einen Tag nach dem Referendum besuchte Iraks Premier Abadi TeheranBild: Irna

Bundeswehrmission verlängert

In Loccum wird deutlich, dass auch die deutsche Bundesregierung dem Referendum sehr kritisch gegenüberstand. Berlin lehne einseitige Schritte in Richtung Unabhängigkeit ab, konnte man hören, und wünsche Gespräche zwischen den Parteien. Berlin stehe aber auch der Eskalation von Seiten Bagdads sehr kritisch gegenüber und fordere eine friedliche Lösung. Zugleich wurde deutlich, dass Deutschland das irakische Kurdengebiet weiter unterstützen möchte. Allerdings seien auch dringend Reformen auf kurdischer Seite gefordert. Die Ausbildungsmission der Bundeswehr soll nach einer Abstimmung des Bundestags vom Mittwoch jedenfalls bis Ende April verlängert werden - obwohl das Verhältnis der Peschmerga zu den ebenfalls von Deutschland unterstützten irakischen Regierungstruppen weiter höchst gespannt ist.  

Bis zu 150 deutsche Soldaten bilden im Nordirak kurdische Peschmerga ausBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Fest steht: Die von so vielen Seiten geforderte Einheit des Iraks ist schwer beschädigt - und nicht erst durch das Unabhängigkeitsreferendum. Muslih Irwani erinnert daran, dass der Irak eine Schöpfung der britischen Kolonialmacht nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war. Ein wirklich geeintes Staatswesen hat es nach Irwanis Einschätzung in den knapp hundert Jahren seither zu keiner Zeit gegeben. Die düstere Prognose des Politikwissenschaftlers aus Dohuk: "Es ist unmöglich, sich für den Moment oder die nähere Zukunft einen geeinten Irak vorzustellen."

Hilfe mit Bedingungen

Bleibt die Frage nach Schadensminimierung - und Schritten hin zu besserer Regierungsführung, Deeskalation und vielleicht sogar Wiederannäherung. Dlawer Ala'Aldeen hat Ideen, wie Deutschland dazu beitragen könnte. Im Gespräch mit der DW plädiert der Präsident des Middle East Research Institute in Erbil dafür, die umfangreiche Hilfe Deutschlands und anderer Geberländer an den Irak und an das Kurdengebiet an Bedingungen zu knüpfen: "Die Politiker sollten ihr Land stabilisieren. Sie sollten gute Regierungsführung fördern, Rechtsstaatlichkeit, den Aufbau von Institutionen, Zusammenhalt." Ala´Aldeen zufolge würden die Kurdenführer solche Bedingungen sogar begrüßen. "Denn sie brauchen solche Anreize, um ihre Kollegen und Anhänger zu überzeugen."

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