1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikAsien

Iran: Wer ist konservativ, gemäßigt oder reformorientiert?

11. Juli 2024

Irans neuer Präsident Peseschkian wird als gemäßigt bezeichnet. Was bedeutet das im politischen System des Landes?

Reformkandidat für die Präsidentschaftswahl im Iran, Masoud Pezeshkian
Irans Präsident Massud PeseschkianBild: Vahid Salemi/AP/picture alliance

Laut iranischen Medien wird der neue Präsident Massud Peseschkian Anfang August im Parlament vereidigt. Bis dahin muss er sein Mandat als Abgeordneter niederlegen, anschließend erhält er seine Ernennungsurkunde als Präsident vom Revolutionsführer Ayatollah Chamenei. Peseschkian ist seit 2008 Mitglied des iranischen Parlaments. Seine ideologische Treue zur Islamischen Republik steht außer Frage. Er wurde vom mächtigen und ultrakonservativen Wächterrat als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen bestätigt. Dafür kam der Artikel 115 der iranischen Verfassung zur Anwendung.

Dieser Artikel verwendet die arabische Formulierung "rejale mazhabi-siasi" oder "religiöse und politische Männer", um mögliche Kandidaten zu definieren. Iranische Politikerinnen, die sich wiederholt für die Präsidentschaftswahlen registrieren lassen, argumentieren jedoch, dass "Rejal" nicht nur Männer, sondern alle Menschen umfasst. Ein Beispiel hierfür ist die verstorbene Politikerin Azam Taleghani: Sie ließ sich vier Mal als Kandidatin für Präsidentschaftswahlen registrieren - und wurde jedes Mal abgelehnt. Ihr Vater Ayatollah Sayyid Mahmud Taleghani war einer der führenden Köpfe der Revolution von 1979.

Unter den sechs zugelassenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2024 war Peseschkian der einzige Politiker, der als gemäßigt gelten kann.

Die Ultrakonservativen, die Hardliner, die Gemäßigten und die Reformisten repräsentieren unterschiedliche Ansätze in Bezug auf Außenpolitik, Gesellschaft und internationale Beziehungen innerhalb des politischen Systems im Iran. Auch die Gemäßigten und Reformisten stehen weder für eine fundamentale Opposition, noch sind sie Systemgegner. Die vier Bezeichnungen – Ultrakonservative, Hardliner, Gemäßigte und Reformer – stellen somit verschiedene Flügel innerhalb des Systems dar. Definiert werden sie durch Parteien, der sie im Iran angehören und die politischen Ziele, die sie verfolgen. Anders als in Deutschland spielen im Iran politische Parteien bei der Gestaltung von Politik und der Ausarbeitung von Gesetzen aber nur eine untergeordnete Rolle.

Diese Zuordnungen geben daher nur eine erste Orientierung über die Position eines Politikers, sind aber nicht immer ganz trennscharf.

Die Ultrakonservativen

Die Ultrakonservativen gehören zu den "Osulgaryan" oder "Prinzipientreuen", die laut der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ein Sammelbecken für Konservative und Radikalislamisten bilden. Die Ultrakonservativen unter ihnen sind für ihre strikte Auslegung der islamischen Gesetze bekannt. Sie möchten islamische Prinzipien durchsetzen. Den Westen sehen sie als Bedrohung für die islamischen Werte an. Universell geltende Bürgerrechte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau lehnen sie als vermeintlich westliche Werte ab. Seit der Revolution von 1979 und der Machtübernahme des religiösen Flügels der Revolutionäre im Iran kontrollieren die Ultrakonservativen die Schlüsselinstitutionen, die sie mit dem religiösen Führer an der Spitze des Machapparat aufgebaut haben. Dazu gehört zum Beispiel der Wächterrat.

Sie spielen eine entscheidende Rolle bei der Formulierung der Außenpolitik des Landes, so zum Beispiel durch ihren Einfluss im Nationalen Sicherheitsrat des Iran. Der gegenwärtige Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats ist Said Dschalili von der Partei "Stabilitätsfront der Islamischen Revolution". Das britische Wochenmagazin Economist beschrieb diese Partei als "Verfechter der schiitischen Vorherrschaft, die jede Art von Kompromiss mit irgendjemandem innerhalb oder außerhalb des Iran ablehnt".

Der Vorsitzende des nationalen Sicherheitsrats, Said DschaliliBild: Morteza Fakhri Nezhad/dpa/IRIB/AP/picture alliance

Dschalili war von 2007 bis 2013 Chefunterhändler bei den Atomgesprächen. Der kompromisslose Ideologe weigerte sich dabei sogar, nach Europa zu reisen, um dort zu verhandeln. Bis heute gehören Dschalili und andere Ultrakonservative zu den entschiedensten Kritikern des 2015 erzielten Atomabkommens, aus dem sich die Vereinigten Staaten 2018 einseitig zurückzogen. Iran habe zu viele Kompromisse gemacht, behaupten sie.

Dschalili war bei den Präsidentschaftswahlen 2024 der Kandidat des ultrakonservativen Lagers. Er lehnte die Normalisierung der Beziehungen zum Westen weiter ab und setzte sich für eine engere Zusammenarbeit mit Russland ein. Seine Vertreterin für Frauenangelegenheiten im Wahlkampf, Maryam Ashrafi Gudarzi, sagte in einem Interview: "Frauen, die kein Hijab tragen wollen und frei sein möchten, sind selbst schuld, wenn sie vergewaltigt werden."

Nicht wenige im Iran bezeichnen Dschalilis Denkweise als "Talibanismus". Der Berater von Masoud Peseschkian im Wahlkampf, der ehemalige Minister für Informations- und Kommunikationstechnologie Mohammad Javad Azari Jahromi, schrieb kurz vor der Wahl in seinem Account auf X: "Lasst nicht die Taliban gewinnen."

"Dschalilis ultrakonservative Haltung ist selbst unter den Hardlinern umstritten“, sagte Hamidreza Azizi, Politologe von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), im Gespräch mit der DW vor der Stichwahl. "Dschalilis Wahl zum Präsidenten wäre aufgrund seiner kompromisslosen islamistischen Überzeugungen sowohl für das iranische Volk als auch für die westlichen Mächte ein Albtraum“, schrieb vor der Wahl Alex Vatanka, Direktor des Iran-Programms am Washingtoner Middle East Institute. 

Die Hardliner

Die Hardliner im Iran haben ebenfalls eine kompromisslose Haltung gegenüber Veränderungen und westlichem Einfluss. Wie die Ultrakonservativen gehören auch sie zum Lager der Prinzipientreuen. Sie bestehen auch auf ihre islamische und vor allem ihrer schiitische Identität. Sie lehnen die nationale Identität, Kultur und Geschichte des Iran vor dem Islam ab.

Sie sind jedoch weniger ideologisch motiviert als die Ultrakonservativen und denken pragmatischer. Die Spaltung zwischen den Ultrakonservativen und den Hardlinern ist in den letzten Jahren größer geworden. So konnten sie sich zum Beispiel nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen einigen. Der Kandidat der Hardliner war Mohammad-Bagher Ghalibaf, der seit 2020 Parlamentschef ist. Er wird von der Partei "Fortschritt und Gerechtigkeit für die Bevölkerung des islamischen Iran" unterstützt. 

Im Gegensatz zu Said Dschalili, der seiner Familie keine öffentlichen Auftritte erlaubt, schickte Ghalibaf seine Tochter zu einem TV-Interview, um im Rahmen der Präsidentschaftswahlen für ihn zu werben. 

Der Parlamentspräsident Mohammad Bagher Ghalibaf Bild: Vahid Salemi/dpa/AP/picture alliance

Wie viele andere Hardliner war Bagher Ghalibaf lange ein Kommandeur der Revolutionsgarden (IRGC) und ist sehr gut mit ihnen vernetzt. Er ist befreundet mit General Esmail Qaani, Kommandeur der Quds Force, die für Auslandsoperationen der Revolutionsgarden zuständig ist. Quasi unterstützte Ghalibafs Kandidatur. Laut iranischen Medien soll der General versucht haben, Said Dschalili zu überzeugen, seine Kandidatur zurückzuziehen.

Die Gemäßigten

Die Gemäßigten stehen zwischen den Reformisten und den Hardlinern. Sie vermeiden extreme Ansichten und sind bereit, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen. Sie lehnen die prä-islamische iranische Identität nicht ab und betrachten sich nicht nur als Soldaten des Islam, sondern auch als Vertreter ihres Landes. Unter ihnen sind viele Akademiker und international erfahrene Persönlichkeiten, die den Westen besser kennen. 

Der ehemalige Präsident Hassan Rohani war ein gemäßigter Politiker, der während seiner Amtszeit (2013-2021) auf Dialog und Diplomatie setzte, insbesondere bei den Verhandlungen über das Atomabkommen mit den Weltmächten. Er gehörte zu der Partei "Moderation und Entwicklung".

Der ehemalige Präsident Hassan Rohani (2013-2021)Bild: picture-alliance/AP Photo/V. Salemi

Der ebenfalls als gemäßigt geltende künftige Präsident Peseschkian begann seine politische Karriere Mitte der 1990er Jahre unter dem Gesundheitsminister Alireza Marandi während der Präsidentschaft des pragmatischen Präsidenten Akbar Haschemi Rafsandschani (1989-1997) . Unter dem reformorientierten Präsidenten Mohammad Chatami (1997-2005) war er Anfang der 2000er Jahre selbst Gesundheitsminister. Sein Mentor Alireza Marandi wurde damals der persönliche Arzt von Ayatollah Chamenei und gilt bis heute als einer seiner engsten Vertrauten.

Der israelische Iran-Experte Danny Citrinowicz bezeichnete Peseschkian im Gespräch mit der DW als moderaten Präsidenten. Citrinowicz ist unter anderem Gastexperte bei mehreren Denkfabriken, darunter das Arab Gulf States Institute und das Middle East Institute, beide in Washington. Er betonte weiter: "Wir wissen, dass der religiöse Führer Ayatollah Chamenei das letzte Wort im Iran hat. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass der Präsident über viele Möglichkeiten verfügt. Peseschkian wird versuchen, ein Abkommen mit dem Westen, vor allem mit den USA, zu erreichen, um wie versprochen den wirtschaftlichen Druck auf den Iran zu reduzieren."

Der Iran steht unter wirtschaftlichem Druck aufgrund der Sanktionen, die wegen seines umstrittenen Atomprogramms verhängt wurden. Diese Sanktionen haben den Zugang zu internationalen Finanzmärkten und zum Handel stark eingeschränkt. Das hat die iranische Wirtschaft erheblich geschwächt. 

Masoud Peseschkian konnte die Wahl gewinnen, weil sich die Ultrakonservativen und die Hardliner nicht auf einen Kandidaten einigen konnten. Zudem erhielt er Unterstützung von den Reformisten, insbesondere vom ehemaligen Präsidenten Mohammad Chatami.

Die Reformisten

Die Reformisten haben keine einflussreichen Positionen im Machtsystem des Iran. Diese politische Bewegung entstand Ende der 1990er Jahre und konnte mit ihren Reformversprechen viele Gesellschaftsschichten mobilisieren. Die bekannteste Figur unter ihnen war Mohammad Chatami. Die Reformisten versprachen, sich für eine liberalere Gesellschaft, die Lockerung kultureller und religiöser Vorschriften, Pressefreiheit und mehr Rechtsstaatlichkeit und Transparenz im politischen System einzusetzen. Sie strebten nach Entspannung und Dialog mit der internationalen Gemeinschaft.

Bei den Präsidentschaftswahlen 1997 konnten die Reformisten Mohammad Chatami mit fast 70 % der Stimmen als fünften Präsidenten der Islamischen Republik ins Amt bringen. Die Wahlbeteiligung lag damals bei 79,92 Prozent. Ihre Agenda konnten sie jedoch aufgrund des erheblichen Widerstands innerhalb des Systems nicht durchsetzen.

Der ehemalige Präsident Mohammad Chatami (1997-2005) unterstützt Peseschkian Bild: Rouzbeh Fouladi/ZUMA Press/picture alliance

Der letzte bedeutende Versuch der Reformisten, das System zu reformieren, scheiterte bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2009. Trotz großer Mobilisierung für ihren Kandidaten Mir Hossein Moussavi ging der ultrakonservative Hardliner Mahmoud Ahmadinedschad als Wahlsieger hervor und trat seine zweite Amtszeit an. Vorwürfe über Wahlbetrug in seinem Innenministerium wurden nie aufgeklärt.

Friedliche Proteste der Reformisten gegen das Wahlergebnis wurden brutal niedergeschlagen. Mir Hossein Moussavi wurde 2010 ohne Gerichtsverfahren unter Hausarrest gestellt.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen