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PolitikAsien

Iran: Protestbewegung und Religion

17. Oktober 2022

Die Proteste im Iran richten sich gegen das geistliche Establishment des Landes, das im Wesentlichen identisch mit dem politischen ist. Der Zorn zielt aber nicht auf die Religion als solche.

 Die Flagge der islamischen Republik Iran in einer Moschee in Isfahan
Die Flagge der islamischen Republik Iran in einer Moschee in IsfahanBild: DW/F. Schlagwein

Junge Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen und vor Porträts des geistlichen Oberhaupts des Landes, Ayatollah Ali Chamenei, den Mittelfinger recken und ihm während Demonstrationen lauthals den Tod wünschen: Die Kundgebungen überwiegend junger Iranerinnen finden ihren vielleicht spektakulärsten Ausdruck in der Wucht, mit der sie auch die religiösen Würdenträger und Symbole des Landes offen herausfordern oder attackieren. Die Wut der Demonstrantinnen hat sich zumindest vorerst bereits Raum im Alltag erobert: Immer häufiger kursieren Videos, die Frauen ohne Kopftuch im Alltag zeigen - in offenem Widerspruch zu den Kleidungsvorschriften, die die von Klerikern dominierte Führung des Landes den Bürgerinnen seit Jahrzehnten macht.

Iranerinnen fordern Ende religiös begründeter Unterdrückung ihrer PersönlichkeitBild: UGC

Doch richtet sich der Unmut auch gegen die Religion - den schiitischen Islam - als solchen? Dafür gebe es keine Anzeichen, sagt der Politologe und Iran-Experte Hamidreza Azizi von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Das zeige sich bereits daran, dass sich an den Protesten auch viele Menschen beteiligten, die durchaus religiös im traditionellen Sinne seien und dies auch zu erkennen gäben, indem sie etwa demonstrierten, dabei aber bekundeten, dass sie den Hidschab aus freien Stücken trügen.

Mit Kopftuch, aber gegen die Regierung

Allerdings kritisierten auch diese Frauen die Hidschab-Pflicht , und zwar, weil die Regierung den Hidschab zu einem Symbol auch ihrer politischen Macht gemacht habe. "Wenn traditionell religiöse Menschen nun ihre Rituale befolgen und Frauen etwa einen Hidschab tragen, ist es für sie sehr schwierig, dies zu tun, ohne als regierungsfreundlich zu gelten", so Azizi im Gespräch mit der DW.

Das Problem dieser Frauen: Eine ausschließlich religiöse - also nicht politische - Deutung des Kopftuchs sei durch die Vorgaben des Regimes, in diesem Fall die Kleidervorschriften, kaum möglich. Frauen, die das Kopftuch aus freien Stücken trügen, könnte ihre Distanz zum Regime äußerlich nur schwer zum Ausdruck bringen. "Die Politisierung des Hidschab und darüber hinaus der Religion allgemein hat sich für beide Teile der Gesellschaft als nachteilig erwiesen: für diejenigen, die religiös sind und für die, die es nicht sind", so Azizi.

Moscheebesuch in Zeiten der PandemieBild: Morteza Nikoubazl/NurPhoto/picture alliance

Die Islamische Republik hat seit ihrer Gründung 1979 eine religiös begründete Kleiderordnung. Bereits einen Monat nach der Revolution wurde ein offizieller islamischer Dresscode eingeführt, schreibt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur in ihrer Chomeini-Biographie. Das Kopftuch wurde überall zur Pflicht. "Die Frauen, die sich weigerten, bezeichnete Chomeini als korrupte Manifestationen des monarchistischen Regimes und des Westens."

Die Verfassung fordert zwar, den Frauen Rechte zu garantieren, aber unter dem Vorbehalt, dass sie den islamischen Prinzipien entsprechen müssen. "Deshalb ist die Frauenfrage im Iran auch nach wie vor ungeklärt", schreibt Amirpur. Ausnahmen von der Verknüpfung von Frauenrechten, Religion und Politik gab es nur selten, so etwa während der Amtszeit des reformorientierten Präsidenten Mohammad Chatami von 1997 bis 2005.

Verschärfung unter Präsident Raisi

Einen besonders rigiden Kurs verfolgt der seit dem Sommer 2021 amtierende Staatspräsident Ebrahim Raisi. Bereits vor seiner Wahl machte der Zeitschrift "Foreign Policy" zufolge der Witz die Runde, Raisi wolle auf den Bürgersteigen des Landes Mauern errichten lassen, die männliche und weibliche Fußgänger voneinander trennen sollten.

Religion und Macht: Der frühere Kommandeur der iranischen Al-Kuds-Brigaden, Kassem Soleimani, bei einer religiösen Zeremonie in der Residenz des geistlichen Führers Chamenei Bild: picture-alliance/dpa/Office of the Iranian Supreme Leader

Nach seinem Wahlsieg setzte verstärkter Druck auf alle jene ein, die den Vorstellungen des Regimes von angemessenem Verhalten nicht entsprachen, so "Foreign Policy". Frauen wurden auf der Straße drangsaliert, weil ein paar Strähnen ihres Haares sichtbar waren; miteinander spazierengehende Paare mussten den Ordnungshütern die Art ihrer Beziehung darlegen; Autofahrer durften keine Musik im Radio abspielen, wenn man diese von außen hören konnte.

Zugleich mehrten sich auf den Social-Media-Plattformen der Revolutionsgarden Aufrufe zur Disziplinierung von Frauen , die ihren Hidschab auf unangemessene Weise trügen. Weibliche Angestellte wurden davor gewarnt, männliche Kollegen mit Singularpronomen anzusprechen, da die Verwendung des Singularpronomens im Persischen ein Ausdruck von Intimität sei.

Die Proteste gegen die staatlichen Bevormundung richten sich auch gegen die Kleriker, weil auch sie den Staat repräsentieren. "Der schiitische Klerus hat als Institution seine Unabhängigkeit verloren und ist gewissermaßen zu einer Art Tochtergesellschaft der Regierung geworden", sagt Hamidreza Azizi. "Die meisten Kleriker seien heute auf die eine oder andere Art mit der Regierung verbunden. Darum würden sie als Repräsentanten der Regierung betrachtet, als Personen, die auf unzulässige Weise von den Steuern und den Erdöleinnahmen profitierten, so Hamidreza Azizi. "Anstatt ihre traditionelle Rolle als der Bevölkerung dienende Geistliche zu spielen, sind sie zu Zentren der staatlichen Indoktrination und der vom Staat verordneten religiösen Propaganda geworden. Aus diesem gibt es immer mehr Slogans gegen die Kleriker."

Religion als persönliche Angelegenheit

Dass allerdings die jungen Iranerinnen und Iraner sich von der Religion insgesamt lossagten, sei unwahrscheinlich, so Azizi. Denn der schiitische Islam sei seit Jahrhunderten auf das engste mit dem iranischen Nationalismus verwoben. Die Vorstellung, die jüngeren Generationen hätten keinerlei religiösen Überzeugungen mehr, sei darum zumindest in Teilen unzutreffend. Vielmehr wollte viele junge und auch ältere Iraner etwas anderes: "Nämlich dass die Religion eine persönliche Angelegenheit ist und es eine Trennung zwischen staatlichen und religiösen Angelegenheiten gibt, in anderen Worten: Sie treten für den klassischen Säkularismus ein."

Neujahrsfest in einer iranischen MoscheeBild: MIZAN

Allerdings hätten junge Iranerinnen und Iraner diesen Säkularismus nie erlebt. Sie wuchsen auf in einer Zeit, in der Religion und Politik miteinander identisch waren. "Das heißt, dass sie beides miteinander gleichsetzen. So hat der zunehmende Unmut über die Regierung bei ihnen auch zu einer Entfremdung gegenüber der Religion selbst geführt."

 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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