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PolitikAsien

Irans Kandidaten gegen Wahlmüdigkeit

14. Juni 2021

Wählen gehen oder nicht – das ist für Irans Regimekritiker die Frage. Während viele einem Boykott zuneigen, sehen andere in der Stimmabgabe einen Hebel.

Iran Teheran Straßenszene vor der Präsidentschaftswahl
Bild: Ahmad Halabisaz/Xinhua/picture alliance

Von Wahlkampffieber sei im Iran nichts zu spüren, berichten Einwohner über die aktuelle Stimmung gegenüber der DW. Das liegt nicht nur daran, dass mehrere aussichtsreichen Kandidaten aus dem moderaten Lager im Vorfeld vom Wächterrat disqualifiziert wurden. Sondern auch, weil wegen der Pandemie keine großen Wahlkampfveranstaltungen erlaubt sind. Nur ein Kandidat ignoriert die Verordnung ohne Angst vor Konsequenzen: Justizchef Ebrahim Raisi. 

Raisi, der Chamenei nahe steht, gilt als klarer Favorit der Hardliner. Sie haben ihre Stammwähler bei ärmeren und älteren Iranern, wo Forderungen nach mehr Bürgerrechten beziehungsweise Frauenrechten nicht erste Priorität haben. Um diese Menschen zu mobilisieren, veranstaltet das Wahlkampfbüro von Raisi immer wieder Präsenzveranstaltungen. So vergangene Woche in der südlichen Großstadt Stadt Ahwaz, wo aktuell täglich 24 Neuinfektionen registriert werden. 

Ex-Zentralbankchef Hemmati will nicht aufgeben

"Die Wahlkampfveranstaltung war ein Gruß an das Gesundheitspersonal", kommentierte Raisis Konkurrent Abdulnaser Hemmati bitter auf seinem Twitter-Account. Hemmati war Präsident der iranischen Zentralbank und gilt als der Kandidat der Moderaten, der noch am ehesten den Kurs Rohanis fortführen würde. Laut Umfragen würden aber fünf Prozent der Wähler für ihn stimmen. "Mein Gegner ist die Wahlmüdigkeit der Bevölkerung", sagte Hemmati in einem von mehreren iranischen Medien verbreiteten Interview vergangene Woche. 

Abdulnaser HemmatiBild: khabaronline

Er hofft, mit seinem auf die Wiederankurbelung der Wirtschaft fokussierten Wahlprogramm doch noch zusätzliche Wähler zu gewinnen. Zusätzlich versucht er über soziale Netzwerke vor allem Frauen anzusprechen. Zahlreiche Frauenaktivistinnen haben zum Wahlboykott aufgerufen.

Desillusionierte Frauen

"Wir haben die Wahlen einfach satt", sagt Shole Pakravan im Gespräch mit der DW. Shole Pakravan, die seit 2016 in Deutschland lebt, gehört zur einem Frauennetzwerk, das sich "Trauernde Mütter" nennt. Es sind die Mütter von jungen Menschen, die in den vergangenen Jahren hingerichtet oder als Teilnehmer an Demonstrationen getötet wurden. Die Tochter von Shole Parkrava, Reyhaneh Dschabari, wurde 2014 hingerichtet. Sie hatte einen Mann, der sie vergewaltigen wollte, tödlich verletzt. Das Urteil wurde trotz internationaler Protest vollstreckt. Im Jahr zuvor, 2013, war Hassan Rohani zum Präsidenten gewählt worden. 

"Diejenigen, die sich reformorientiert oder moderat nennen, haben uns schon seit langem enttäuscht", sagt Shole Pakravan. "Sie versprachen uns bei jeder Wahl, die Frauenrechte zu stärken und sich für Bürger- und Menschenrechte einzusetzen. Damit konnten sie Frauen für sich mobilisieren. Aber nach der Amtsübernahme behaupteten sie alle, sich gegen den Widerstand der konservativen Kreise nicht durchsetzen zu können. Warum sollen wir überhaupt wählen?"

Frauenaktivistin Narges Mohammedi (r.) und "Trauernde Mütter" haben zum Wahlboykott aufgerufenBild: Farzad Seifikaran

So wie sie glauben viele Iraner nicht mehr an Veränderungen durch Wahlen. Sie wollen sich nicht mehr mit leeren Versprechen für eine hohe Wahlbeteiligung instrumentalisieren lassen. Laut jüngsten Umfrage wollen mehr als 60 Prozent der wahlberechtigten Iraner am 18. Juni den Wahlurnen fernbleiben.

Niederlage für Raisi könnte Veränderung einleiten

Das wäre ein Fehler, glaubt Peyman Aref. Der 39-jährige iranische Journalist lebt in Brüssel und gehört zu den Befürwortern der Wahlen. "Für die Hardliner und ihren Kandidaten Ebrahim Raisi geht es nicht nur um das Präsidialamt. Sie wollen Raisi in eine starke Position als Nachfolger des religiösen Führers Chamenei bringen", sagt Aref im Gespräch mit der DW. Aref war im Iran ein bekannter Aktivist. Er hatte sich zwischen 2001 und 2014 an Protestaktionen der Zivilgesellschaft während der Amtszeiten der Präsidenten Chatami, Ahmadinedschad und Rohani beteiligt. Mehrmals wurde er verhaftet, er durfte sein Studium nicht beenden.

Und doch hat er seine Hoffnung auf eine friedliche Veränderung von innen noch nicht aufgegeben. "Mit einer entsprechend hohen Wahlbeteiligung, zum Beispiel für Hemmati, könnten die Wähler Raisi zum zweiten Mal eine Abfuhr erteilen. Er wollte schon 2017 Präsident werden. Das wäre eine Blamage für die Hardliner, die Raisi als Nachfolger des religiösen Führers aufbauen wollen." Bei einer Niederlage Raisis müssten sich die Hardliner mit Vertretern anderer Strömungen im Expertenrat einigen, glaubt Aref.

​​​​Die Hardliner wollen Raisi als Nachfolger des religiösen Führers aufbauenBild: Atta Kenare/AFP/Getty Images

Der Expertenrat, ein Gremium führender Kleriker, wählt den religiösen Führer. Zu seinen Mitgliedern gehört der ehemalige Justizchef Sadegh Lardschani, der empört ist, weil sein Bruder Ali Laridschani nicht für die Präsidentschaftswahlen kandidieren durfte. Ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Lagern im Expertenrat könnte darin bestehen, die Position des religiösen Führers statt auf Lebenszeit nur noch für eine begrenzte Zeit zu besetzen. Eine andere Option wäre, das Amt mit einem mehrköpfigen Gremium zu besetzen. Beides wurde in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit thematisiert.

"Jede Veränderung, mit der die Position des religiösen Führers geschwächt wird und die demokratischen Elemente wie Parlament oder Präsidialamt gestärkt werden, weist in die richtige Richtung," meint Peyman Aref. 

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