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Politik

IRC: Die 20 schlimmsten Krisen

14. Dezember 2022

Das IRC stellt jedes Jahr die Emergency Watchlist mit 20 Krisenländern zusammen. Nie war die Not so groß wie heute, aber es gibt auch Lichtblicke.

Somalia | Hungerkrise
Das am schwersten betroffene Land weltweit ist SomaliaBild: Sally Hayden/ZUMA Wire/IMAGO

Das International Rescue Committee ist eine sehr alte Hilfsorganisation. 1933 wurde sie auf Vorschlag des jüdischen Flüchtlings Albert Einstein in den USA gegründet, um Menschen vor dem Naziregime in Deutschland zu retten. Heute setzt sich das IRC für Hilfsbedürftige in Krisengebieten weltweit ein. Und es stellt jedes Jahr die sogenannte Emergency Watchlist auf: 20 besonders gefährdete Länder. Dabei untersucht es Faktoren wie wirtschaftliche Resilienz, die Intensität von Konflikten, Naturkatastrophen und Vertreibung.

Die Krisenstaaten sind - in dieser Reihenfolge - Somalia, Äthiopien, Afghanistan, Demokratische Republik Kongo, Jemen, Syrien, Südsudan, Burkina Faso, Haiti und Ukraine. Auf Platz elf bis 20 liegen die Zentralafrikanische Republik, Tschad, Libanon, Mali, Myanmar, Niger, Nigeria, Pakistan, Sudan und Venezuela. 

Wachsende Finanzierungslücke bei internationaler Hilfe

Es geht aber bei der Auswahl der Länder, wie das IRC betont, eben nicht um die Schwere von bestehenden Krisen jetzt, sondern um "das Risiko einer Verschlechterung", das heißt, um eine Vorhersage der künftigen Entwicklung und - hoffentlich - um die rechtzeitige Abwendung einer Katastrophe. 

In Somalia treffen jahrelange Dürre, jahrzehntelange Konflikte und hohe Weltmarkt-Lebensmittelpreise zusammen Bild: Farah Abdi Warsameh/AP/dpa/picture alliance

"Die wichtigste Botschaft in diesem Jahr ist", sagt George Readings vom IRC der DW, "dass Krisen schlimmer werden und sich beschleunigen, aber dass wir auch etwas dagegen tun können".

Die Emergency Watchlist zeigt für 2022 ein Rekordniveau an benötigter humanitärer Hilfe und sieht für 2023 große Gefahren voraus. Besorgniserregend ist auch die längerfristige Entwicklung. So benötigten im Jahr 2014 laut ICR 81 Millionen Menschen weltweit Hilfe. Heute sind es 339 Millionen. Und 90 Prozent von ihnen leben in Ländern, die auf der Emergency Watchlist stehen. Gleichzeitig ist die Finanzierungslücke internationaler Hilfe gerade in den letzten Jahren immer größer geworden. Die Bedürfnisse wachsen, aber es wird weniger gespendet.

Der Bericht weist auch auf eine wachsende Ungleichheit hin: "Während eine wachsende Minderheit der Weltbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, Klimawandel und wirtschaftliches Chaos immer tiefer in der Krise versinkt, hebt anderswo wirtschaftliche Entwicklung eine Rekordzahl von Menschen aus der Armut."

Größter Krisentreiber: bewaffnete Konflikte

Als wichtigste drei Krisentreiber macht die Organisation bewaffnete Konflikte, Klimawandel und wirtschaftliche Verwerfungen aus. In fast allen genannten Ländern bestehen Krisen zwar seit langem, aber diese Faktoren verschärfen sie noch oder lösen neue Krisen aus.

Gewaltsame Konflikte stehen demnach für 80 Prozent der humanitären Not. Vielfach sind Zivilisten die Leidtragenden. Ausnahmslos alle der 20 Watchlist-Länder leiden unter bewaffneten Konflikten. Der Klimawandel verschlimmert humanitäre Notlagen in vielen der besonders gefährdeten Länder. Und wirtschaftliches Chaos verschärft die Armut. 

Somalia: Dürre, Konflikte und hohe Getreidepreise

Drei Länderbeispiele aus drei Kontinenten seien hier herausgegriffen: 

Somalia steht ganz oben auf der Liste. Eine katastrophale Ernährungskrise entstand hier aus dem Zusammentreffen von jahrelanger Dürre und jahrzehntelangen Konflikten. Dazu kommt Somalias Abhängigkeit von einer neuen Krisenregion. "Vor dem Krieg in der Ukraine importierte Somalia 90 Prozent seines Getreides aus Russland und der Ukraine", sagt George Readings. "Diese Lieferungen wurden massiv unterbrochen, und die Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten sind seit Beginn des Krieges gestiegen." All dies zusammengenommen macht Somalia auf der Emergency Watchlist zu dem am schwersten betroffenen Land der Erde.

Afghanistan stand vergangenes Jahr auf Platz eins. Diesmal ist es ein wenig in der Rangfolge nach unten gerutscht, aber nicht, weil sich die Situation dort verbessert hätte, sondern weil sie anderswo noch schlechter geworden ist. In Afghanistan spürt die Bevölkerung den wirtschaftlichen Zusammenbruch seit der Machtübernahme durch die Taliban und dem Abzug des Westens. Praktisch die gesamte Bevölkerung lebt in Armut, und ein langer, harter Winter hat gerade erst begonnen.

Ein großer Teil der ausländischen Hilfe für Afghanistan bleibt seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ausBild: DW

Die Ukraine steht als europäisches Land nur wegen des Krieges auf der Liste. Der Krieg hat nach Angaben des UNHCR die größte Fluchtkrise seit Jahrzehnten ausgelöst. Russische Angriffe auf die zivile Infrastruktur hat Millionen von Menschen von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten. Nur durch die rasche und umfangreiche Hilfe aus dem Ausland steht die Ukraine nicht noch schlechter da.

Gegen den Defätismus

In diesem Jahr untersucht das IRC ganz besonders die sogenannten "guardrails", auf deutsch "Geländer" oder "Reling". Damit sind soziale Einrichtungen und Hilfen auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene gemeint, die krisengeplagte Menschen vor dem völligen Absturz bewahren. Gerade diese "guardrails" sieht das IRC in vielen Ländern jedoch geschwächt. Doch das, schreibt IRC-Präsident David Miliband im Vorwort des Berichts, "ist nicht unvermeidlich, sondern eine bewusste Entscheidung", und hier müsse man bei der Lösung von Krisen ansetzen. "Wenn wir die 'guardrails' wieder aufbauen können", so George Readings, "dann können wir anfangen, die humanitäre Not und die Krisen in der Welt zu lindern".

Als wieder ukrainische Getreidefrachter auslaufen durften, war das eine große Erleichterung auch für viele afrikanische Länder, die stark von ukrainischem Weizeneinfuhren abhängenBild: Khalil Hamra/AP/picture alliance

Das IRC nennt positive Beispiele: Die von den Vereinten Nationen vermittelte Feuerpause im Jemen, "die längste Periode relativer Ruhe (…) seit Beginn des Krieges 2014"; den Bau von Küstenschutzanlagen in Bangladesch, "der tausende von Menschenleben (…) gerettet hat"; schließlich das UN-vermittelte Getreideabkommen vom August dieses Jahres im Ukraine-Krieg, durch das die Getreideexporte aus der Ukraine gerade auch in die besonders abhängigen Länder Afrikas wiederaufgenommen werden konnten. 

Die Krisen, gibt der Bericht zu, waren damit nicht zu Ende. Aber man habe zumindest die Auswirkungen von Krisen abmildern können. Und sie zeigten: "Wir dürfen nicht zulassen, dass der Defätismus siegt."