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Literatur

Irmgard Keun: "Das kunstseidene Mädchen"

Courtney Tenz spe, db
6. Oktober 2018

In Keuns Roman ist das Berlin der Weimarer Zeit laut, bunt – und eine Hochburg von Gewalt und Kriminalität. Die 18-jährige Doris schlägt sich in der Stadt der Kabarette durch. Sie sehnt sich danach, berühmt zu werden.

Irmgard Keun
Bild: picture-alliance/dpa

Berlin, 1931. Doris ist 18 und träumt davon, berühmt zu sein.

"Ich will so ein Glanz werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfum riecht, und alles wie Paris. Und die Leute achten mich hoch, weil ich ein Glanz bin."

Doris arbeitet als Sekretärin in Köln, aber sie hat die Nase voll von einem Leben in Armut, ihrem arbeitslosen, alkoholkranken Vater und ihrer wohlmeinenden, aber erschöpften "Hausfrau"-Mutter. Doris träumt davon, nach Berlin zu fliehen, und so erpresst sie ihren Arbeitgeber mit einer kompromittierenden Situation. Sie erhält eine Abfindung, die ihr den Weg in die große Stadt ebnen soll, wo sie ein "Glanz" sein kann – ein Star. In einem Nerzmantel, den sie bei ihrem Nebenjob als Garderobenfrau im Theater mitgehen lässt, verlässt die junge Doris mit nichts als der Kleidung auf dem Leib und ihrem Verstand die Stadt.

"Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun

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Berlin in der Weimarer Zeit ist lebhaft und turbulent – die Stimmung schwer in Worte zu fassen. Aber genau das gelingt dem "Kunstseidenen Mädchen" mit seiner flotten Prosa und Doris' schlagfertigen Beobachtungen.

"Und ich kam an auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo sich ungeheures Leben tummelte. Und ich erfuhr, daß große politische Franzosen angekommen sind vor mir, und Berlin hatte seine Massen aufgeboten. Sie heißen Laval und Briand – und als Frau, die öfters wartend in Lokalen sitzt, kennt man ihr Bild aus Zeitschriften. Ich trieb in einem Strom auf der Friedrichstraße, die voll Leben war und bunt und was Kariertes hat. Es herrschte eine Aufregung! Also ich dachte gleich, daß sie eine Ausnahme ist, denn so furchtbare Aufregung halten auch die Nerven von einer so enormen Stadt wie Berlin nicht jeden Tag aus. Aber mir wurde benommen, und ich trieb weiter – es war spannende Luft."

Der Roman "Das kunstseidene Mädchen" wurde 1959 verfilmtBild: Imago/United Archives

Die Vorkriegsatmosphäre bestimmt den Ton des Buches mit den Beschreibungen des nächtlichen Treibens in den Kabaretts und einschlägigen Etablissements, unerschrockenen und meist sehr unmittelbar im Slang der Berliner Halbwelt erzählt aus Doris' Perspektive. Scheinbar ist alles möglich in dieser von Armut geprägten Stadt. Und Doris selbst kennt die Finsternis, in die solche Armut die Menschen treibt.

Als Leser im 21. Jahrhundert wissen wir rückblickend, was kam. Doris' Abenteuer in der Stadt, ihr Streifzug durch die Prostitution, die Nächte in Kabaretts und auf den Sofas in den Wohnungen von Freunden lesen sich als eine Vorahnung, ein Vorspiel dafür, dass Hitler bald an die Macht kommen würde und die Nazis in die Stadt marschieren würden, um die aufrührerische Ära zu beenden.

Berlin "Unter den Linden" 1932 - Doris behauptet, wenig von Politik zu verstehen, und findet sich doch immer wieder in großen Menschenansammlungen wiederBild: picture-alliance/akg-images

Ob aus jugendlicher Naivität, grenzenlosem Optimismus, oder einfach, weil ihr keine Wahl bleibt – Doris ist mit ihrem Leben als kleine Diebin und Hostess zufrieden. "Ich überwaltige mich", sagt sie, als sie sich für ein paar Tage unverhofft in der luxuriösen Wohnung eines kleinen, dicken Geschäftsmanns aufhalten darf – und bei ihrem Rausschmiss, als die Frau auftaucht und der windige Herr verhaftet wird, immerhin noch eine Krokodillederhandtasche und ein paar Seidenschuhe als Gegenleistung für ihre erotischen Dienste retten kann. Und obwohl das Gefühl der Vorahnung das gesamte Buch durchzieht, lässt die Protagonistin nicht zu, dass die Tagespolitik ihre eigenen Träume überschattet, sogar als diese sich vor ihren Augen in Nichts auflösen.

"Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an."

 

Irmgard Keun: "Das Kunstseidene Mädchen" (1932), erhältlich bei Klett (Textausgabe mit Materialien) und im Claassen Verlag (Ullstein Buchverlage)

Irmgard Keun muss das gleiche Gefühl der Vorahnung gehabt haben wie ihre Figur Doris. In Berlin geboren und in Köln aufgewachsen, erlangte die Schriftstellerin 1931 mit ihrem Debüt "Gilgi, eine von uns" schnell Ruhm. "Das kunstseidene Mädchen" folgte innerhalb eines Jahres und überzeugte die Leser sofort; das Buch verkaufte sich fast 50.000 Mal, ehe die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen.

Kurz darauf landete Keun auf einer "schwarzen Liste" von Autoren und konnte nicht mehr unter ihrem eigenen Namen veröffentlichen. "Das kunstseidene Mädchen" war bald vergriffen. 1936 floh Keun aus Deutschland ins benachbarte Belgien, später in die Niederlande. Obwohl sie im Exil lebte und in den Niederlanden weiterhin unter einem Pseudonym veröffentlichte, täuschte Keun nach der Besetzung der Niederlande durch die Nazis ihren eigenen Tod vor und kehrte unter falschem Namen für den Rest des Krieges nach Deutschland zurück. Über die Kriegserlebnisse der Schriftstellerin ist wenig bekannt; sie starb 1982 in Köln.

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