IS - die dschihadistische Hydra
21. August 2019Der Hinterhalt war heimtückisch. Am 4. Juni dieses Jahres erhielten Polizisten der Ortschaft Tarmiya nordwestlich von Bagdad einen Hilfeanruf vermeintlicher Zivilisten. Diese erklärten, sie seien auf einen PKW gestoßen, der vermutlich mit Sprengstoff beladen sei. Ob die Polizeiwache nicht ein paar Mitarbeiter schicken könnten, die sich den Wagen ansehen könnten. Als sich die Beamten dem Fahrzeug näherten, eröffneten versteckte Scharfschützen der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) das Feuer. Sieben Ordnungshüter starben.
Mit Aktionen wie diesen zeigt der IS, dass mit ihm trotz aller militärischer Niederlagen noch zu rechnen ist. "Der IS hat Tarmiya überhaupt nicht verlassen", erklärte kurz nach dem Attentat der Generalsekretär der schiitischen Terrormiliz Qais al-Kharzali. Er forderte den irakischen Premier Adel Abdel Mahdi auf, sich des Problems anzunehmen.
Den Umstand, dass ausgerechnet der Repräsentant einer schiitischen Miliz die Regierung auffordert, gegen den IS vorzugehen, kann dieser als einen gleich doppelten Erfolg buchen: Zum einen lässt sich so unter den IS-Anhängern Stimmung gegen die Schiiten machen - Hass und Rivalität zwischen den Konfessionen ist im IS ein bewährtes Instrument der propagandistischen Mobilisierung. Zum anderen demonstriert der Appell an den irakischen Premierminister auf unfreiwillige Art, als wie bedeutsam die Präsenz des IS im Irak weiterhin gilt.
Terror im Irak
Tatsächlich ist der IS im Irak ungeachtet der ihm beigebrachten Niederlagen weiterhin eine hochgefährliche Organisation. In den Nord- und Westprovinzen des Irak führte er allein in diesem Jahr bislang 139 Angriffe aus. 274 Personen kamen dabei ums Leben, unter ihnen 170 Polizisten. Auf besonders obszöne Weise dokumentierte der IS seinen Machtanspruch in der Ortschaft Samarra nördlich von Bagdad: Anfang August enthaupteten IS-Milizen dort öffentlich einen Polizisten.
Der IS geht allerdings nicht nur gegen den Staat, sondern auch die Bevölkerung vor. Von Bauern etwa verlangt er Schutzgeld. Zahlen diese nicht, brennen die Terroristen die Felder nieder. Solche Aktionen richten sich nicht nur gegen die jeweiligen Farmer, sie zielen auch auf die Bevölkerung: Diese soll sich nicht mehr sicher fühlen, sich auf diese Weise der Regierung entfremden und sich die Zustände der vergangenen Jahre zurückwünschen - eben jene, in denen der IS die Gegend beherrschte und kontrollierte.
Wenig spricht derzeit dafür, dass die Zeiten des IS im Irak wie auch in Syrien vorbei sind. Ende Juli rühmte sich Abu Ali al-Basri, der Chef der irakischen Anti-Terror-Aufklärung, zwar, seine Truppe habe bei ihrer Arbeit nicht einmal eine Handvoll Verluste erlitten, zugleich aber über 3500 IS-Kämpfer getötet. Doch diese Zahlen wiegen wenig angesichts der derzeit im Irak und in Syrien noch präsenten wie auch aktiven Widerstandskämpfer. Die New York Times schätzt deren Zahl auf 18.000 Mann. Die Führungsspitze des IS verfüge zudem über ein Vermögen von bis zu 400 Millionen Dollar, das teilweise in neue Anschläge investiert werde.
"IS hat vom Baath-Regime gelernt"
"Der IS passt sich an, er konsolidiert sich und schafft Bedingungen, die zu einem möglichen Aufstand im irakischen und syrischen Kernland führen", heißt es in einer im Juni 2019 veröffentlichten Studie der Vereinten Nationen. Als wesentliches Rekrutierungsfeld gelten in dieser Hinsicht die Gefangenenlager in den kurdischen Gebieten im Nordosten Syriens. Die prekären Bedingungen dort seien ideal, um die Ideologie des IS unter den dort inhaftierten Dschihadisten am Leben zu halten und neue Mitglieder zu rekrutieren.
Der IS versucht auch dadurch zu beeindrucken, dass er sich mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit umgibt. Würden ranghöhere Milizen gefangen genommen oder getötet, gäbe die IS-Führung die Nachricht nicht bekannt. Darin unterscheide sich der IS grundlegend von Al-Kaida, zitiert das mit der Politik des Nahen Ostens befasste Internet-Magazin Al-Monitor den irakischen Anti-Terrorkommandanten al-Basri. "Der IS hat vom Baath-Regime (der Partei des ehemaligen Diktators Saddam Hussein, Anm. d. Red.) gelernt. Viele IS-Mitglieder gehörten früher diesem Regime an. Sie lügen und täuschen, wie auch Saddams Regime es tat. Das ist ihr Stil."
Der IS und Europa
Eine solche Taktik komme auch bei potentiellen Adressaten in Europa gut an, heißt es in der UN-Studie. "Die Radikalisierung von Kriminellen innerhalb des Gefängnissystems bleibt in Europa ein heikler Punkt. Dort bieten Gefängnisse einen Ort für Häftlinge, die von Armut, Ausgrenzung, Frustration, niedrigem Selbstwertgefühl und Gewalt betroffen sind" - exakt jener Personenkreis, den der IS anvisiert.
Zudem, so schreibt die französische Tageszeitung "Le Figaro", könnten rund 2000 ehemalige IS-Kämpfer aus dem Irak und Syrien nach Europa zurückkehren. Zwar habe es in den EU-Ländern seit geraumer Zeit keinen IS-Anschlag mehr gegeben. Das aber könne sich sehr rasch ändern. Die derzeitige Lage deute nicht auf Frieden hin, so die Zeitung, sondern auf etwas anderes: einen Waffenstillstand.