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Islam-Reform "wird Zeit in Anspruch nehmen"

Kersten Knipp25. Februar 2015

In der muslimischen Welt hat eine Diskussion um die Reform des Islam begonnen. Der Islamwissenschaftler Jörn Thielmann sieht diese als ersten Schritt, um religiös motivierten Terrorismus einzudämmen.

Scheich Ahmad Mohammad al-Tayyeb (2.v.l.) auf einer Konferenz gegen islamistischen Terrorismus in Kairo (Foto: Getty Images)
Scheich Ahmad Mohammad al-Tayyeb (2.v.l.) auf einer Konferenz gegen islamistischen Terrorismus in KairoBild: AFP/Getty Images/K.Desouki

Der ägyptische Religionsgelehrte Scheich Ahmad Mohammad al-Tayyeb von der Kairoer Al-Azhar-Universität hat zu einer radikalen Reform der islamischen Lehre aufgerufen. Auf einer dem Zusammenhang von Religion und Terrorismus gewidmeten Konferenz im saudischen Mekka erklärte er, eine historisch falsche Koran-Auslegung habe zu einer intoleranten Auslegung des Islam geführt. Der saudische König Salman bezeichnete den dschihadistischen Terrorismus als Bedrohung für alle Muslime und die gesamte Welt. Sie sei eine Plage, die auf extremistische Ideologien zurückgehe. Doch auf welche Wurzeln geht der dschihadistische Terrorismus zurück? Und was können religiöse Reformen bewirken? Darauf antwortet im DW-Interview der Erlanger Islamwissenschaftler Jörn Thielmann.

Deutsche Welle: Herr Thielmann, der sunnitische Religionsgelehrte Scheich Mohammad al-Tayyeb ruft angesichts des Terrors zu einer Reform des Islam auf. Man könnte den Eindruck haben, der Appell komme etwas spät. Brauchte es den Dschihadismus, um diese Diskussion in Gang zu bringen?

Jörn Thielmann: Der Begriff "Reform" hat nicht nur für radikale Salafisten, sondern auch für viele Muslime einen faden Beigeschmack. Das hat damit zu tun, dass die säkularen Regime allzu oft korrupt waren. Viele Bürger trauen dem Islam zu, zu diesen auf Distanz zu gehen. Aber Reformen können Religionen im schlechtesten Fall auch korrumpieren. Das wollen viele Muslime verhindern. Zudem gehen die Vorbehalte auf bisherige Missbrauchserfahrungen zurück. Repräsentanten des Islams, auch solche von der Al-Azhar-Universität, wurden oft zu Bütteln des Staats degradiert.
Skeptisch sind viele Muslime aber auch angesichts der radikalen islamischen Spielarten, wie sie etwa auf der arabischen Halbinsel entworfen wurden. Diese stehen im Gegensatz zu den gemäßigteren Traditionen in anderen islamischen Ländern. Aufgrund dieser Sorgen und Bedenken wurde die Reformdiskussion zu einem heftig umkämpften Feld. Viele Theologen, die institutionell nicht so geschützt sind wie Scheich al-Tayyep, halten sich darum mit Äußerungen zurück. Sie fürchten sich vor Angriffen – durchaus auch tödlichen.

Wenn jetzt über eine Reform des Islam diskutiert wird, zielt das ja auf zweierlei: Erstens darauf, des Terrorismus wieder Herr zu werden. Zweitens geht es aber auch darum, den religiösen Diskurs grundsätzlich wieder in tolerante Bahnen zu lenken. Das scheint allerdings ein sehr langwieriges Projekt zu werden.

Ja, es wird Zeit in Anspruch nehmen, ideologische Orientierungen ändern sich nicht über Nacht. Wir Deutschen wissen das aus eigenen Erfahrungen. Die Veränderungen nach der NS-Zeit brauchten Jahrzehnte, um sich durchzusetzen. Im Nahen Osten scheint vielen Akteuren nun klar zu werden, was für ein gefährliches Islam-Verständnis sie in den letzten Jahrzehnten herangezogen haben. Dieses kriegen sie nicht mehr in den Griff. Und schlimmer noch, es wendet sich nun gegen sie selbst. Der "Islamische Staat" und Al-Kaida sind nur die Spitze des Eisbergs, die sichtbarsten Repräsentanten einer Welle der Gewalt, die vermutlich längst noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Vermutlich haben sich auch viele derjenigen, die bislang mit den Dschihadisten sympathisierten, von deren Brutalität und Ruchlosigkeit abschrecken lassen. Entsprechende Gewalttaten gibt es inzwischen ja in fast allen muslimischen Ländern - man denke etwa an Boko Haram in Nigeria und dessen Nachbarstaaten. Viele Muslime sind es auch leid, dass ihr Glauben von Menschen in Anspruch genommen wird, die solche Verbrechen begehen.

Jörn ThielmannBild: privat

Der Ursprung des Dschihadismus wird mit ganz unterschiedlichen Faktoren erklärt. Einer scheint auch die in weiten Teilen der Region vorherrschende politische Kultur zu sein.

Ja. Es stellt sich die Frage, wie die Muslime das Verhältnis von Staat und Religion, Öffentlichkeit und Privatheit künftig gestalten wollen. Denn eines der Probleme ist ja, dass bestimmte Gruppen versuchen, ihre Vorstellungen von Religion und öffentlicher Ordnung anderen Menschen mit Gewalt aufzuzwingen. Da stellt sich natürlich die Frage nach dem Wert der Toleranz. Das kam ja auch auf der Tagung in Mekka zur Sprache. Dort diskutierte man über die Praxis des "Takfir", also der Strategie, Muslime, die andere Vorstellungen haben, zu "Ungläubigen" zu erklären. Im traditionellen Islam ist man mit dieser Praxis immer sehr zurückhaltend umgegangen. Seit rund 30 Jahren, genauer, seit dem Attentat auf den ägyptischen Präsident Anwar al-Saddat, hat diese Praxis aber stark zugenommen. Mit diesem Problem werden sich nicht nur die islamischen Theologen, sondern alle Muslime auseinandersetzen müssen. Denn wenn der "Islamische Staat", Boko Haram und ähnliche Gruppen sich auf den Islam berufen, kann man sich nicht damit begnügen, zu sagen, der Islam habe damit nichts zu tun.

Wie muss man sich den Zusammenhang zwischen Islam und Gewalt denn vorstellen?

Natürlich ist der Islam nicht per se gewalttätig. Er war auch nicht intolerant – das lassen ja schon die bis heute in den islamischen Ländern lebenden religiösen Minderheiten erkennen. Zwar hat der Islam kein eigens ausgearbeitetes Toleranzkonzept. Doch in der Praxis hat er sich immer tolerant gezeigt. Hinzu kommt der Umgang mit religiösen Quellen. Hier ist das Problem, dass sich viele theologisch ungebildete Muslime auf den Koran beziehen, ohne die muslimische Geistesgeschichte und Interpretationskultur zu kennen. Stattdessen sind sie überzeugt, sie könnten komplexe und alte Texte eins zu eins verstehen. Sie wähnen sich im Besitz der einzig richtigen Koran-Interpretation. Das bahnt gewalttätigen Interpretationen natürlich den Weg, denn der mäßigende Einfluss der Traditionen von Deutung und Überlieferung bleibt auf diese Weise außen vor. Stattdessen kann jeder seine persönlichen Ressentiments und Gewaltphantasien in den Text einfließen lassen oder diese religiös erhöhen. Dadurch wird der Islam zu einer Ermächtigungsideologie. Die ersten Opfer einer solchen Ideologie sind natürlich die Muslime selbst.

Jörn Thielmann ist Islamwissenschaftler und Geschäftsführer des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa EZIRE an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.