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PolitikNahost

Religiosität auf dem Rückzug?

12. Februar 2021

Laut Umfragen gehen immer mehr Menschen in arabischen und islamisch geprägten Ländern auf Distanz zum eigenen Glauben und wünschen sich eine stärkere Trennung von Religion und Staat. Was steckt dahinter?

Iran Frauen mit Kopftuch
Bild: picture-alliance/imagebroker/W. G. Allgöwer

Die arabische Welt ist eine Region der konfessionellen Hingabe mit eindeutiger Prägung: Amtlichen Zahlen zufolge hängen die allermeisten Bewohner der Region zwischen Marokko und dem Jemen dem islamischen Glauben an. Der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung beträgt selbst in einem multi-konfessionellen Staat wie dem Libanon noch rund 60 Prozent - und annähernd 100 Prozent in Jordanien, Saudi-Arabien sowie vielen weiteren Staaten der Region.

Gestützt wird dieser Umstand durch die Strukturen vieler religiöser Einrichtungen in der Region: Oftmals stehen religiöse Institutionen - nicht nur beim Islam, sondern auch bei christlichen und weiteren anerkannten religiösen Minderheiten - in Diensten der jeweiligen Regierungen und stützen damit zumindest indirekt auch deren Herrschaftsansprüche. Die zumeist autoritären Regierungen der Region kontrollieren darüber das religiöse Leben, aber auch Medien oder Lehrpläne.

Dennoch zeigen jüngere Umfragen einen überraschenden Trend, nämlich den zu einer zunehmenden Säkularisierung. Außerdem werden die Forderungen nach einer Reform der religiös-politischen Institutionen immer lauter.

Libanon: Abschied vom Schleier

Im Libanon befragte das zu den Universitäten Princeton und Michigan gehörende Forschungsnetzwerk "Arab Barometer" rund 25.000 Bürger zu ihrer Religiosität. "Die persönliche Frömmigkeit ist in den vergangenen zehn Jahren um 43 Prozent zurückgegangen", fassen die Demografen das Ergebnis zusammen. Dies weise darauf hin, dass sich heute ein knappes Viertel der Bevölkerung als religiös definiere.

Fragt man Passanten auf der Straße, bestätigt sich dieser Eindruck. Eine Libanesin berichtete der DW von ihren Erfahrungen über ihre Herkunft aus einem konservativen Milieu. "Ich komme aus einer sehr religiösen Familie", sagte die 27-Jährige. "Als ich zwölf Jahre alt wurde, zwangen mich meine Eltern, den Schleier zu tragen." Aus Angst vor Repressalien will die junge Frau ihren Namen nicht öffentlich preisgeben. "Meine Familie drohte mir damals ständig, ich würde in der Hölle brennen, sollte ich meinen Schleier entfernen."

Anti-Establishment-Demonstration in Beirut (im Oktober): Für eine Ordnung jenseits der KonfessionenBild: Emma Freiha/Reuters

Jahre später habe sie sich an der Universität mit einer Gruppe von Atheisten befreundet. "Allmählich ließ ich mich von ihrer Sichtweise überzeugen. Eines Morgens, als ich zur Uni ging, beschloss ich, vor dem Verlassen des Hauses meinen Schleier abzulegen", sagt sie. Das Schwierigste sei für sie gewesen, ihrer Familie gegenüber zu treten. "Tief im Inneren habe ich mich geschämt, dass meine Entscheidung meine Eltern so traurig machte."

Konfessionslose haben es im Libanon nicht leicht. Denn es ist fast unmöglich, keine offizielle Bindung zur Religion zu haben - das sieht das Standesamt nicht vor. Zwar erfasst die entsprechende Liste 18 verschiedene Konfessionen. Doch den Eintrag "konfessionslos " gibt es nicht.

Iran: Massive Säkularisierung

Eine Umfrage im Iran kam zu vergleichbaren Befunden. Das der Universität Utrecht angegliederte Meinungsforschungsinstitut "Group for Analyzing and Measuring Attitudes in Iran" (GAMAAN) befragte 40.000 Personen mit Lese- und Schreibkenntnissen über 19 Jahren. 47 Prozent erklärten, sie betrachteten sich als nicht religiös.

Pooyan Tamimi Arab, Assistenzprofessor für Religionswissenschaft an der Universität Utrecht und Mitautor der Umfrage, betrachtet diese Entwicklung sowie den Wunsch nach religiösem Wandel als logische Folge der Säkularisierung des Iran. "Die iranische Gesellschaft hat große Veränderungen durchlaufen: Die Alphabetisierungsrate ist enorm gestiegen, die Verstädterung ist massiv vorangeschritten, die wirtschaftliche Entwicklung hat die traditionellen Familienstrukturen beeinflusst, und die digitale Infrastruktur ist mit derjenigen der Europäischen Union vergleichbar. Außerdem sind die Geburtenraten gesunken", so Tamimi Arab im Gespräch mit der DW.

Zwar glauben 78 Prozent der Befragten an Gott, ergab die Umfrage. Doch nur ein knappes Drittel - 32 Prozent - identifizierten sich laut Studie als schiitische Muslime. Neun Prozent der Iraner sehen sich hingegen als Atheisten sowie sechs Prozent als Agnostiker, acht Prozent als Zoro-Astrianer, sieben Prozent als spirituell Ausgerichtete und fünf Prozent als Sunniten. Ein gutes Fünftel - rund 22 Prozent - identifiziert sich laut Umfrage mit keiner dieser Richtungen.

Hasan Abad, einer der wenigen multireligiösen Stadtteile Teherans: 15 Prozent Atheisten und Agnostiker im IranBild: Changiz M. Varzi

"Wir beobachten eine Zunahme der Säkularisierung und eine Vielfalt von Glaubensrichtungen", so Tamimi Arab. Entscheidend für diese Entwicklung sei ein Faktor: "Die Verflechtung von Staat und Religion sorgt in der Bevölkerung für Unmut über die institutionalisierte Religion, und zwar ganz unabhängig von dem Umstand, dass die überwiegende Mehrheit weiterhin gläubig ist".

Unterscheidung zwischen Glaube und religiösen Institutionen

Ähnliche Gedanken teilen auch die Bürger anderer Staaten. Sie unterscheide streng zwischen dem Islam als Religion und dem Islam als politischem System, sagt eine Frau aus Kuwait im DW-Gespräch. Auch sie möchte ihren Namen nicht öffentlich bekanntmachen. "Als Teenager habe ich keinen Beweis für die Schlüssigkeit der von der Regierung behaupteten Vorschriften im Koran gefunden", berichtet sie. Daraufhin habe sie vom Glauben abgelassen.

Vor rund 20 Jahren seien Einstellungen wie ihre noch überwiegend missbilligt worden. Heute aber sei eine veränderte Einstellung gegenüber dem Islam überall zu spüren. "Die Ablehnung der Unterwerfung unter den Islam als System bedeutet allerdings nicht, den Islam als Religion abzulehnen", fügt die Kuwaiterin hinzu.

Unterschiede von Land zu Land

Der Soziologe Ronald Inglehart, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Michigan in Lowenstein und Autor des Buches "Religious Sudden Decline", hat zwischen 1981 und 2020 durchgeführte Umfragen aus über 100 Ländern analysiert. Seine Beobachtung: Die Säkularisierung folgt einem dominierenden Muster - je sicherer ein Land wird, desto säkularer werden die Menschen. "Die Zunahme derjenigen, die überhaupt nicht glauben, vollzieht sich in so unterschiedlichen Ländern wie dem Irak, Tunesien und Marokko", sagt Tamimi Arab.

Betender in der Al-Rajhi-Moschee in Riad: Pflicht zum Glauben in Saudi-ArabienBild: Reuters/A. Yosri

Je mehr Menschen zwischen Religion als Glauben und Religion als konfessionellem System unterscheiden, desto lauter wird der Ruf nach Reformen. Die sind - wenig verwunderlich - nicht überall willkommen. Denn die religiöse Deutungshoheit gilt einigen Regierungen in der Region weiterhin als Instrument, sich einen über die nationalen Grenzen hinausreichenden Einfluss zu bewahren.

"Der Trend, sich vom Glauben loszusagen, steht den Bemühungen des Iran sowie seiner Rivalen Saudi-Arabien, der Türkei und der Vereinigten Arabischen Emirate entgegen. Denn sie konkurrieren um religiöse Soft Power und Führung der muslimischen Welt ", sagt der Journalist und Nahostexperte James Dorsey, derzeit Senior Fellow bei S. Rajaratnam School of International Studies der Nanyang Technological University in Singapur.

Saudi-Arabien: Religionskritik als Verbrechen

Dennoch gingen die Regierungen auf ganz unterschiedliche Weise auf die Veränderungen ein, sagt Dorsey. Er verweist auf zwei Beispiele: Während die Vereinigten Arabischen Emirate die Verbote für Alkoholkonsum und das Zusammenleben von unverheirateten Paaren aufgehoben haben, gilt Atheismus in Saudi-Arabien bisher als eine Form von Terrorismus.

Als Beispiel für die harten Folgen religiöser Dissidenz verweist Dorsey auf den saudischen Blogger und Aktivisten Raif Badawi. Er hatte öffentlich die Frage gestellt, warum die saudischen Bürger verpflichtet seien, sich an den Islam zu halten. Auch erklärte er, Religion gebe nicht auf alle Fragen des Lebens eine Antwort.

Äußerungen wie diese werden in Saudi-Arabien trotz aller Reformbemühungen weiterhin als Verbrechen behandelt. Und das bekam Raif Badawi zu spüren: Wegen Abfalls oder Beleidigung des Islam wurde er zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.