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Politik

Islamistische "Gefährder" - Bedrohung der Sicherheit

21. Dezember 2016

Die Fahndung nach Anis Amri läuft auf Hochtouren. Deutsche Behörden hatten ihn als "Gefährder" eingestuft. Diese rasch wachsende Gruppe stellt Deutschland vor erhebliche Sicherheitsprobleme.

Deutschland Breitscheidplatz nach dem Anschlag in Berlin
Bild: DW/F. Hofmann

"So hoch wie nie zuvor" – mit diesen Worten umriss Innenminister Thomas de Maizière im September dieses Jahres die Anzahl islamistischer "Gefährder" in Deutschland. Konkret seien es über 520 Personen, erklärte er.

Seitdem ist deren Zahl noch einmal gewachsen. Die deutschen Sicherheitsbehörden stufen derzeit 549 Menschen in diese Kategorie ein. Das sagte ein Ministeriumssprecher am Mittwoch in Berlin.

Als "Gefährder" definierte de Maizière im September Personen, "bei denen bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden." Hinzu kamen weitere 360 Menschen, die von den Bundesländern als sogenannte "relevante Personen" eingestuft würden - als Personen, die schwere politische Straftaten womöglich unterstützen könnten.

Fahndungsfoto des Terror-Verdächtigen Anis AmriBild: picture-alliance/dpa/Bundeskriminalamt

Gefahr aus mehreren Richtungen

Die Terrorgefahr komme derzeit aus zwei Richtungen, so der Innenminister: Einmal von so genannten "Hit-Teams", die aus dem Ausland nach Europa geschleust würden, um hier terroristische Straftaten zu verüben. Zum anderen von fanatisierten Einzeltätern aus Deutschland selbst.

Sie zu identifizieren bereite die größten Schwierigkeiten, da diese Täter kaum mit anderen Personen kommunizieren würden. Gefährlich seien aber beide Gruppe. "Beide Bedrohungen sind heute leider sehr real", so de Maizière.

Der Verfassungsschutz nennt in seinem Jahresbericht 2015 zudem zwei weitere Gruppen, aus denen sich Gefährder rekrutieren könnten, nämlich Rückkehrer aus Dschihad-Gebieten und solche, die an der Ausreise in eben diese gehindert werden.

Eine weitere Gefährdung ist für die Verfassungsschützer auch durch die Migration in Richtung Europa gegeben: "Angesichts der anhaltenden Zuwanderungsbewegungen nach Deutschland ist zudem davon auszugehen, dass sich unter den Flüchtlingen auch aktive und ehemalige Mitglieder, Unterstützer und Sympathisanten terroristischer Organisationen sowie Einzel­personen mit extremistischer Gesinnung oder islamistisch motivierte Kriegsverbrecher befinden können."

Theologischer Wildwuchs

Als besorgniserregend gilt in dem Bericht der Umstand, dass die in Deutschland aktiven salafistischen Bewegungen anders als in den islamischen Ländern selbst keine Rücksicht auf theologische Traditionen nehmen müssten. Das heißt: Die führenden Köpfe der Bewegungen können deren ideologisch-religiöse Marschrichtung nach eigenen Vorstellungen vorgeben - ohne dass ein anerkannter Theologe sie daran hinderte.

So können religiöse und politische Anliegen nach eigenem Gutdünken miteinander vermengen und ihren jeweiligen Zwecken dienstbar machen. Eine solche "wilde" Theologie hat den Vorteil, dass sie sich den Bedürfnissen potentieller Mitglieder anpassen könne. Sie ist flexibel und kann auf die vielfältigen Erwartungen viel leichter eingehen als eine etablierte und kodifizierte Lehre.

Lockruf der Gewalt: Abu Bakr al-Baghdadi, der "Kalif" des ISBild: REUTERS

Ein komplexes soziales Profil

Der Rekrutierung neuer Mitglieder sei das förderlich, sagt der Politologe und Soziologe Martin Kahl vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Denn der Kreis potentieller Dschihadisten umfasse Personen ganz unterschiedlichen Profils: "Es handelt sich um - meist jüngere – muslimische Männer. Darin erschöpft sich  fast die soziologische Schnittmenge."

Hinsichtlich Bildung und Erfolg gebe es zwar immer wiederkehrende Tendenzen. So stünden die meisten Täter eher auf der unteren gesellschaftlichen Skala."Trotzdem gibt es eine breite soziale Stratifikation."

So könne man zum Beispiel nicht sagen, dass sozial abgehängte Personen besonders gefährdet seien. "Es gibt auch Dschihadisten, die aus guten sozialen Verhältnissen stammen."

Radikalisierungsfaktoren

Gleichwohl weist das Bundeskriminalamt (BKA) in einer im Oktober 2016 veröffentlichten Studie auf einige Phänomene hin, die in Radikalisierungsprozessen verstärkt auftauchen. So liegen den deutschen Sicherheitsbehörden Informationen zu den Aktivitäten von 572 Personen vor, die seit 2014 nach Syrien und in den Irak ausgereist sind.

Dazu zählen etwa Kontakte in einschlägigen Moscheen (48%), der Besuch dschihadistischer Seiten im Internet (44%), sogenannte Islamseminare (27%) oder Koran-Verteilaktionen, wie sie etwa das Projekt „Lies!" organisiert (24%). Rund ein Fünftel ließ sich auch über Familienmitglieder radikalisieren. 

Sorgen bereiteten den Behörden Organisationen wie die inzwischen verbotene Vereinigung „Die Wahre Religion" (DWR) die für die "Lies!"-Aktionen verantwortlich ist. Sie, berichtet der Verfassungsschutz in seinem Bericht für das Jahr 2015, habe offen mit dschihadis­tischen Gruppierungen kooperiert. "Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich nicht wenige Teilnehmer der Koran-Verteilaktion „LIES!" so weit radikalisierten, dass sie zur Teilnahme am Dschihad nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind."

Brücke in den Dschihadismus: Koranverteil-Aktion "Lies!" Bild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

"Keine einfache Lösung"

Die Motive und Stationen der Radikalisierung bis hin zur Gewaltanwendung sind zahlreich. In jeder Radikalisierungsbiographie setzen sie sich auf neue Weise zusammen. Darum, so der Politologe und Soziologe Martin Kahl, stelle es die Sicherheitsbehörde vor große Probleme. "Ein Allheilmittel gibt es nicht dagegen."

Derzeit gebe es international eine Welle der Gewalt. Diese animiere eine Reihe von Personen, mit dschihadistischen Akteuren zu sympathisieren oder sich ihnen sogar anzuschließen. Diese Personen von ihrem Vorhaben und dem entsprechenden Weltbild abzubringen, sei ein langwieriges und komplexes Unternehmen. "Für manche Probleme gibt es eben keine einfachen Lösungen – und die darf man dann auch nicht versprechen, weder seitens der Wissenschaft noch seitens der Politik."

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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