1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Islamistische Tendenzen auf dem Westbalkan

Claudia Mende
18. Juli 2024

Führt der Gaza-Krieg zu einer neuen Welle der Radikalisierung auf dem Westbalkan? Ein versuchter Anschlag auf einen Sicherheitsmann der israelischen Botschaft in Belgrad gibt Anlass zu Befürchtungen.

Das hoch aufragende Minarett der Gazi-Husrev-Beg-Moschee in Sarajevo neben der Kuppel der Moschee. Links daneben der Uhrturm, ein weiteres Wahrzeichen der Stadt
Der Uhrturm und das Minarett der Gazi-Husrev-Beg-Moschee in Sarajevo, Wahrzeichen der Hauptstadt von Bosnien und HerzegowinaBild: O. Muamer/Pond5 Images/IMAGO

Der Islam in Bosnien und Herzegowina und in der Region Sandschak im Südwesten Serbiens gilt als weltoffen und tolerant. Hier haben seit Jahrhunderten sunnitische Muslime mit Christen und Juden zusammengelebt und ihre eigene Form eines europäischen Islam geschaffen. Doch seit den 1990er Jahren gerät dieser Islam durch Einflüsse von außen immer wieder unter Druck. Ein Anschlag auf einen Wachmann der israelischen Botschaft in Belgrad am 29.06.2024 nährt jetzt die Befürchtung, dass es zu einer neuen Welle der Radikalisierung kommen könnte.

Anschlag auf die israelische Botschaft in Belgrad am 29.06.2024: Die serbische Polizei sichert den Tatort Bild: Marko Drobnjakovic/AP Photo/picture alliance

Vor dem Bosnienkrieg (1992-1995) habe es auf dem Balkan keine Salafisten oder Wahhabiten gegeben, sagt Vedran Dzihic vom Österreichischen Institut für Internationale Politik in Wien. "Sie haben ihre Wurzeln nicht auf dem Balkan." Bis heute handele es sich bei den radikalen Gruppen um eine kleine Minderheit unter den Muslimen.

Einfluss radikaler Gruppen während des Bosnienkriegs

Während des Bosnienkriegs erhielten die muslimischen Bosniaken nennenswerte militärische Unterstützung vor allem aus islamischen Ländern, und mit ausländischen Kämpfern kamen auch radikale Ausrichtungen des Islam ins Land, die nach Kriegsende nicht wieder verschwanden. Sie bilden das "Fundament des politischen Islamismus" in Bosnien und Herzegowina, schreibt Karsten Dümmel in einer Analyse für die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Dümmel war 2014-2018 KAS-Büroleiter in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo.

Ramadan-Gebet in Novi Pazar in der südserbischen Region SandschakBild: Aleksandar Niciforovic/Anadolu Agency/picture alliance

Etwa 4000 Mudschahedin aus arabischen Ländern kämpften damals auf bosnischer Seite, von denen viele nach dem Friedensvertrag von Dayton 1995 im Land blieben. Radikale Gruppierungen etablierten sich seit den späten 1990er Jahren mithilfe offener Unterstützung aus Saudi-Arabien in manchen Regionen Bosnien und Herzegowinas und des Sandschak. Mit saudischem Geld wurden salafistische Moscheen gebaut und Kultureinrichtungen unterhalten.

Muslime beim Gebet in der Gazi-Husrev-Beg-Moschee in SarajevoBild: Armin Durgut/AP Photo/picture alliance

Während des Kriegs in Syrien und im Irak diente dann der Islamische Staat als Projektionsfläche für junge Menschen, die sozial frustriert waren und in den Dschihad nach Syrien und Irak zogen, so der Politologe Dzihic. Bosnien und Herzegowina gehörte damals zu den europäischen Ländern mit der größten Zahl von IS-Kämpfern pro Kopf der Bevölkerung. Diese IS-Sympathisanten stammten im Wesentlichen aus einigen mittlerweile gut überwachten sogenannten Salafistendörfern in Bosnien. Nach dem Ende des IS in Syrien und im Irak im Jahr 2019 ist diese Form der Radikalisierung wieder zurückgegangen; islamistische Anschläge gab es im Westbalkan seitdem nicht mehr.

Rückzug der Saudis

Doch die radikalen Organisationen bestehen weiterhin, obwohl Saudi-Arabien seine Finanzhilfen wohl zurückgefahren hat. Der Täter von Belgrad, ein serbischer Konvertit, wurde laut Medienberichten in ihnen radikalisiert. Er lebte zuletzt in der überwiegend von Muslimen bewohnten Stadt Novi Pazar in der südserbischen Region Sandschak. Im Januar 2020 hatte der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman angekündigt, man werde keine Moscheen im Ausland mehr unterstützen. 2021 bezeichnete der De-Facto-Machthaber des Landes in einer Fernsehansprache, die "ultra-konservative Interpretation des Islam als überholt".

Der saudische Kronprinz Mohammed bin SalmanBild: Sergei Savostyanov/TASS/dpa/picture alliance/dpa/TASS

Hier ist zwar eine Säule des Extremismus weggebrochen; dafür spielen neue Faktoren eine Rolle. Der anhaltende Krieg im Nahen Osten könnte zu einem neuen Treiber von Radikalisierung werden. "Bis jetzt gab es zwar nur wenige Auswirkungen des Gazakriegs auf den Balkan", meint Giorgio Cafiero, Balkan-Experte beim US-amerikanischen Think Tank Gulf State Analytics. "Aber je länger die Situation in Gaza anhält, desto mehr wächst das Risiko dafür." Der Gazakrieg trage heute mehr als jeder andere Konflikt weltweit zur Radikalisierung junger Muslime bei. "In der arabischen und islamischen Welt gibt es eine starke Emotionalisierung angesichts der vielen Toten in Gaza, die täglich zu beklagen sind." Das könne auch junge Männer in die Hände radikaler Kräfte treiben.

Radikalisierung durch den Gaza-Krieg?

Auch der Politologe Vedran Dzihic meint, die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten würden zu einer neuen Welle der Radikalisierung beitragen, auch wenn sich die Zahl dieser neuen Radikalen nicht genau beziffern ließe. Auf dem Westbalkan nehme man den Gazakrieg als einen weltweiten Feldzug gegen die Muslime wahr. "Der Westen beklagt die toten Kinder in der Ukraine, zu Gaza schweigt man." Das führe zu Verbitterung, anti-westlichen Ressentiments und auch Antisemitismus.

Auch die Politik Serbiens wird als ambivalent wahrgenommen. Einerseits unterstützt das Land international die Anliegen der Palästinenser, auf der anderen Seite liefert es aber auch seit dem 7.10.2023 Waffen an Israel.

Soziale Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit

Die überwiegende Zahl der Muslime in Bosnien und Herzegowina und im Sandschak lehnt extreme Tendenzen als Missbrauch ihrer Religion ab. Die islamische Gemeinschaft hat sich von dem Terroranschlag von Belgrad klar distanziert. Doch neben dem Gazakrieg bilden auch soziale Ungleichheit und das nicht eingelöste Versprechen einer besseren Zukunft nach dem Ende des Bosnienkriegs einen Nährboden für Radikalisierung.

"Die ganze Region hat in den 1990er Jahren einen enormen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verfall erlebt", sagt Vedran Dzihic. "Die Hoffnungen auf einen 'Aufholprozess' haben sich nicht erfüllt." Profitiert habe nur eine kleine, neue Elite mit Nähe zu den Regimen. Die breite Masse der Bosnier dagegen kämpfe mit Marginalisierung, Verarmung und einem niedrigen Lebensstandard knapp an der Armutsgrenze. Unter jungen Menschen gebe es eine große Unzufriedenheit angesichts ihrer Situation. Jedes Jahr würden Zehntausende die Region verlassen.

"Diese Situation führt zu Frustrationen und ist ein Nährboden für extreme Ideologien, nicht nur islamische, sondern auch für einen serbischen Nationalismus." Bei den Muslimen im Sandschak komme hinzu, dass sie sich als benachteiligt und diskriminiert von den Serben sehen. Nach dem Anschlag von Belgrad steige die Gefahr antimuslimischer Stimmungen in Serbien. Diese wiederum würden die Spirale von Frustration und Radikalisierung weiter anheizen.