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Island: Mit Plan und "Goldener Generation"

Andreas Sten-Ziemons (mit sid, dpa, 11 Freunde)23. Juni 2016

Als Außenseiter nach Frankreich gereist, begeistern die Kicker von der Atlantikinsel ihre eigenen Fans genauso wie neutrale Zuschauer - bleiben aber stets bescheiden. Woher kommt der große Erfolg der kleinen Insel?

UEFA EURO 2016 - Island vs. Österreich, Isländer feiern Sieg (Foto: Reuters/C. Platiau)
Bild: Reuters/C. Platiau

"Wir wollen die Vorrunde überstehen", hatte Gylfi Sigurdsson noch vor zwei Wochen als Ziel Islands für die EM ausgegeben. Und damit lehnte sich der ehemalige Hoffenheimer Profi im Grunde schon weit aus dem Fenster: "Wir können frei aufspielen, wir haben ja so schon viel erreicht." In der Tat war bereits die souveräne Qualifikation in einer Gruppe mit Tschechien, der Türkei und den Niederlanden viel mehr, als alle Experten und auch die Isländer selbst für möglich gehalten hätten. Nun stehen sie nach drei Spielen ohne Niederlage im Achtelfinale der EM.

Die "Fußballzwerge" von der Vulkaninsel im Nordatlantik sind ein Phänomen. Nur 20.000 der 330.000 Einwohner Islands sind als aktive Fußballer beim nationalen Verband KSI registriert. Zum Vergleich: Die Schweiz hat rund 280.000 aktive Spieler - in Deutschland sind es mehr als 6,8 Millionen. Island ist die mit Abstand kleinste Nation, die sich je für eine Europameisterschaft qualifiziert hat, der Erfolg der Inselkicker kommt aber alles andere als von ungefähr.

Professionelles Training, bessere Plätze

Zum einen zahlt sich aus, dass auf Island seit dem Jahr 2000 intensiv in Fußballhallen und Kunstrasenplätze investiert wurde. Wo früher nur in der kurzen Sommersaison gespielt werden konnte oder auf Eis und Schnee gekickt werden musste, war nun ein regelmäßiger Spielbetrieb möglich. "Ich habe früher auf Kies gespielt, jetzt gibt es Rasenplätze in Hallen", lobte beispielsweise Eidur Gudjohnsen, isländisches Ausnahmetalent und Rekordtorschütze der Nationalmannschaft, der einst beim FC Chelsea und dem FC Barcelona unter Vertrag stand, die Entwicklung.

Bessere Infrastruktur: Islands Fußballer und der Nachwuchs trainieren in Hallen mit KunstrasenBild: picture-alliance/H. Gudjonsson

Hinzu kommt, dass die Jugendarbeit auf professionelle Füße gestellt wurde. "Schon die untersten Altersklassen werden jetzt in ganz Island von ausgebildeten Trainern betreut, das ist selbst in England oder Deutschland oft nicht der Fall", erklärte Augsburgs Stürmer Alfred Finnbogason vor der EM in einem Interview mit "11 Freunde". "Man muss einen Trainerschein gemacht haben, um überhaupt ein Team zu trainieren. Früher waren es bei den Kindern oft fußballinteressierte Eltern, die ein Team betreuten. Damit ist jetzt von Anfang an für einen gewissen Qualitätsstandard gesorgt." Auch bedingt durch die Verbesserung der Infrastruktur und des Jugendtrainings ist in den vergangenen Jahren auf Island eine Art "Goldene Generation" herangewachsen, die heute den Kern der Nationalelf bildet.

Lagerbäck will kein Held sein

Mittelfeldspieler Sigurdsson, der mittlerweile Swansea City spielt, sein Nebenmann Aron Gunnarsson von Cardiff City, Flügelmann Birkir Bjarnarson vom FC Basel, Kolbeinn Sigthorsson, der für den FC Nantes stürmt und Finnbogason, der in Augsburg auf Torejagd geht - sie alle sind Spieler, die auf europäischen Top-Niveau mithalten können. Eine solche Häufung außergewöhnlich talentierter Fußballer gab es in Islands Nationalmannschaft bislang nicht. Da man seit Jahren zusammenspielt und sich perfekt kennt, erntet die Nationalmannschaft nun bei der EM die Früchte. "Der Großteil des heutigen Nationalteams spielte schon in den Jugendauswahlen zusammen", sagte Finnbogason in "11 Freunde". "2010 haben wir in der Qualifikation für die U21-EM den Favoriten Deutschland mit 4:1 geschlagen. Das war ein Moment, in dem uns unser Potential richtig bewusst wurde."

Das Potential endgültig zum Leben erweckt hat Trainer Lars Lagerbäck. Der Schwede, der seit 2011 als Nationaltrainer auf Island arbeitet, ist der Vater des Erfolgs. Dennoch bleibt Lagerbäck, der eng mit seinem Co-Trainer Heimir Hallgrimsson, einem Zahnarzt, zusammenarbeitet, bescheiden. "Ich würde nicht sagen, dass ich ein Nationalheld bin", sagt Lagerbäck, der nach der Endrunde zurücktreten und Platz für seinen Assistenten machen wird: "Leute wie Nelson Mandela und Martin Luther King sind Helden." Dennoch hat auch Lagerbäcks Leistung etwas Heldenhaftes. Der stets ruhig und entspannt wirkende Fußballlehrer verordnete seinem Team ein stabiles 4-4-2-System. Er schenkte seinen Spielern viel Vertrauen, das sie ihm mit großem Einsatz auf dem Platz zurückzahlen. Auf Basis einer effektiven und unangenehm zu bespielenden Defensive schaffte es Lagerbäck, Islands Team auch offensiv glänzen zu lassen. Mit 17 Treffern hatten die Isländer in der EM-Qualifikationsgruppe den zweitbesten Angriff, bei gerade einmal sechs Gegentoren.

Bescheiden und erfolgreich: Trainer Lars LagerbäckBild: picture-alliance/Citypress24

Auch in den bisherigen drei EM-Spielen erzielten die Isländer immer mindestens einen Treffer. Die Folge von Lagerbäcks Arbeit: Innerhalb von nur vier Jahren sprang die Nationalmannschaft Islands in der Weltrangliste der FIFA um 97 Plätze nach oben. Von Rang 131 ging es hinauf auf Platz 34.

Angetrieben von der blauen Wand

Neben ihren kämpferischen und teilweise auch spielerischen Qualitäten kommt den Isländern in Frankreich zu Gute, dass sie von einer Woge der Begeisterung getragen werden, die sie zum Teil selbst ausgelöst haben. Knapp 30.000 isländische Fans sind in Frankreich und unterstützen ihr Team. Bei jedem Gruppenspiel stand eine blaue Wand hinter der Mannschaft, die durch ihre mutigen und frechen Auftritte recht schnell auch neutrale Zuschauer auf ihre Seite zog.

30.000 Isländer sollen sich zur EM in Frankreich aufhalten - rund neun Prozent der BevölkerungBild: Reuters/E. Keogh

Wie sehr die Fußballer ihre eigentlich als nordisch unterkühlt geltenden Landsleute in Ekstase versetzen können, beweist die Reportage des isländischen TV-Kommentators Gudmundur Benediktsson beim 2:1-Siegtreffer gegen Österreich. Als sich Islands Spieler zum siegbringenden Konter auf den Weg machten, den Arnor Traustason erfolgreich abschloss, verlor Benediktsson komplett die Fassung und fast auch seine Stimme. "Ja! Ja! Ja! Wir gewinnen das hier! Wir sind unter den letzten 16. Wir sind unter den letzten 16. Wir haben gegen Österreich gewonnen!", schrie der Kommentator mit hoher, verzerrter Stimme und konnte sich minutenlang nicht beruhigen. In den sozialen Netzwerken machte ihn das zum Star: Mehrere Millionen Mal wurde das Video mit seiner Reportage bis zum nächsten Morgen abgerufen.

Traumlos England

Nun geht es im Achtelfinale am Montag gegen England weiter (21 Uhr MESZ). Für viele der Isländer, die sich genau wie andere nordeuropäische Länder sehr stark am englischen Fußball orientieren, ist das ein absolutes Traumlos. "Wenn ich sie im Fernsehen sehe, bin ich Fan von England", sagte Innenverteidiger Kari Arnason. "Das ist also etwas ganz Besonderes." Zuvor soll sich das Team aber von der kräftezehrenden Vorrunde erholen. "Wir werden ihnen jetzt einfach sagen: Geht schlafen und erholt euch", sagte Co-Trainer Heimir Hallgrimsson nach dem Erfolg gegen Österreich. "Es ist Zeit, sich zu erholen. Wir brauchen das jetzt sehr." Fünf Tage sollten reichen, um die müden Beine wieder fit zu bekommen. Und auch die Stimme des euphorischen Kommentators sollte sich bis dahin erholt haben. Und dann steht dem nächsten isländischen Fußballwunder - zumindest theoretisch - nichts mehr im Wege.

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