Mit dem Körper in Kairo, mit dem Herzen in Gaza
11. November 2024Mona hat das Rauschen des Meeres früher sehr geliebt. In Gaza war das Meer eine Konstante. Die Sonne, die Wellen - all das ließ sie die alltäglichen Herausforderungen vergessen. "Immer wenn ich wütend oder traurig war, bin ich dorthin gegangen und habe gefühlt, dass ich meine Sorgen mit ihm teilen konnte. Ich wünschte, ich könnte es wiedersehen", sagt sie.
Doch der Krieg in Gaza hat alles verändert. Das Meer hat seine Unschuld verloren. Früher konnte Mona dort ihre Sorgen flüstern, jetzt ist es stummer Zeuge von Tod, Verzweiflung und Not geworden.
In Ägyptens Hauptstadt Kairo ist das Meer nur noch eine Erinnerung. Die Stadt ist geschäftig, voller Lichter, die nie erlöschen, doch Mona fühlt sich seltsam unsichtbar. Das Meer ist weit entfernt, verdrängt von Beton und Hektik, von drückender Luft und einem Alltag, der ihr oft den Atem raubt.
Kairo: Teure Flucht und neue Ängste
Mona - das ist nicht ihr richtiger Name - lebt seit sechs Monaten allein mit ihren drei Kindern in Kairo. Sie war schwanger mit dem jüngsten, als sie mit Tochter und Sohn im Kindergartenalter vor dem Krieg in Gaza geflohen ist - einem Krieg, von dem sie sagt, dass er alle anderen Kriege in den Schatten stelle. Mehrmals musste sie mit ihrer Familie vor Bomben und Drohnen der israelischen Armee fliehen, zuletzt in ein Zelt am Meer. "Ich habe so viel Tod und Leid gesehen", sagt die 31-Jährige verzweifelt.
In Kairo schienen neue Sorgen auf sie zu warten. Kurz nach ihrer Ankunft wurde Mona dort aus ihrer ersten Wohnung geschmissen. Die Vermieterin hatte Angst vor möglichen Konsequenzen durch den ägyptischen Staat, weil sie an palästinensische Geflüchtete vermietete. Für die frühere Radiomoderatorin Mona war es ein erneuter Schlag, der sie an die Unsicherheit der Flucht erinnerte. Die Gedanken an das, was sie in Gaza erlebt hat, verfolgen sie jede Nacht in Kairo. Dazu kommt: "Ich musste meinen Mann zurücklassen, weil das Geld für seine Ausreise nicht gereicht hat." 5000 Dollar hatte Familie von Spendern im Ausland für ihre Flucht gesammelt.
Während mehrere tausend Kranke und Verwundete zur Behandlung in ägyptischen Krankenhäusern nach Kairo reisen durften, kamen viele Palästinenser aus Gaza auch mit Hilfe ausländischer Botschaften oder über ein ägyptisches Vermittlungsunternehmen raus.
Das Unternehmen hat eine hohe "Koordinierungsgebühr" verlangt, um Palästinensern bei der Flucht aus dem Gazastreifen zu helfen. So reiste auch Mona mit ihren Kindern aus. Berichten zufolge soll das Vermittlungsunternehmen mit den staatlichen ägyptischen Sicherheitsdiensten verbunden sein, doch diese streiten eine Verbindung ab.
Ägypten: Palästinenser aus Gaza sollen nicht bleiben
Unklar ist, wie viele Palästinenser tatsächlich aus Gaza herauskommen und in Ägypten bleiben konnten. Anfang Mai schätzte der palästinensische Botschafter in Ägypten, Diab al-Louh, die Zahl auf etwa 100.000. Helfer vor Ort gehen jedoch von einer höheren Dunkelziffer aus. Der Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten wurde am 7. Mai geschlossen, nachdem das israelische Militär die Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte. Mona macht sich daher große Sorgen um ihren Ehemann.
Einmal in Ägypten, sind besonders die nicht-medizinisch Evakuierten größtenteils auf sich allein gestellt. Die meisten haben Touristenvisa, die längst abgelaufen sind, damit wohnen sie illegal im Land, was sie von öffentlicher Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen Dienstleistungen ausschließt.
Sie sitzen zwischen allen Stühlen: Palästinenser fallen nicht unter das Mandat des UN-Flüchtlingswerks UNHCR und erhalten daher keine formelle Unterstützung. Eigentlich ist das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten für sie zuständig (UNRWA), doch das hatte noch nie ein Mandat für Ägypten. So sind die Geflüchteten auf private ägyptische Freiwilligengruppen angewiesen, die Lebensmittel verteilen, Kleidung und Schuhe abgeben, nach Gelegenheitsjobs suchen und Spenden sammeln.
Laut einer Analyse des Thinktanks Crisis Group stellt der Krieg in Gaza Ägypten vor erhebliche Herausforderungen.
Öffentliche Empörung über das Vorgehen Israels im Gazastreifen könnte - so die Sorge des ägyptischen Regimes - Proteste gegen die Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi auslösen, besonders angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage in Ägypten. Im März 2024 wurden Dutzende Demonstranten in Ägypten nach Protesten gegen Inflation und Armut festgenommen.
Ägypten will nicht, dass sich Palästinenser aus Gaza dauerhaft niederlassen. Die Sorge bestehe, so die Crisis Group, dass Israel palästinensische Geflüchtete nicht zurückkehren lässt.
Mona verdrängt den Gedanken daran, ob sie jemals wieder nach Gaza wird zurückkehren können. "Die ersten Wochen hier in Kairo waren sehr schwer, aber dann habe ich Lucy kennengelernt."
Freiwillige helfen: "So können meine Kinder Kinder sein"
Lucy - auch sie möchte ihren richtigen Namen nicht nennen - gehört zu den Menschen, die in Monas Leben getreten sind und alles verändert haben. Ursprünglich kommt Lucy aus Deutschland, lebt seit fast zwei Jahrzehnten in Ägypten, Kairo ist für sie Heimat und sie ist gut vernetzt. Ihr Herz schlägt für Mona, für Frauen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und nun in einem anderen Land gestrandet sind. Sie erinnert sich noch genau, wie Mona ihr auffiel, als Monas Schwägerin, die schon vorher nach Kairo fliehen konnte, sie auf einen gemeinsamen Ausflug mitgenommen hatte: "Mir fiel auf, wie dünn und blass sie war, dabei offensichtlich schwanger. Sie sprach kaum, und dennoch lud sie mich später zum Abendessen ein. Es war ein ruhiges Treffen, aber mir war klar: Sie braucht Unterstützung."
Die beiden Frauen begannen, sich gegenseitig Halt zu geben. "Lucy ist ein liebenswerter, guter Mensch", sagt Mona mit einer Dankbarkeit, die tief aus ihrem Herzen kommt. "Sie hat mich nicht nur bis zu meiner Geburt begleitet, sondern auch Essen für uns organisiert. Sie hilft meinen Kindern bei allem. Durch sie können meine Kinder hier in Kairo Kinder sein."
Monas Tochter ist sechs Jahre alt, ihr Sohn vier, und das Baby, das sie in Kairo geboren hat, vervollständigt die kleine Familie, die mit der bangen Hoffnung auf eine sichere Zukunft in der Fremde lebt. In den schwierigsten Momenten, wenn die Erinnerungen an Gaza Mona nachts verfolgen und die Angstzustände wiederkehren, ist Lucy da.
Für Lucy ist diese Form der Hilfe kein wohltätiges Projekt, sondern ein Prinzip der Solidarität. "Mutual Aid ist ein anderer Ansatz in der Hilfe", erklärt sie. Lucy meint: "Er ist gemeinschaftsorientiert, antikapitalistisch und frei von großen westlichen Organisationen, die oft nur sich selbst dienen."
Sie hat bereits in Deutschland mit Geflüchteten gearbeitet, hat Familien betreut, Anträge ausgefüllt. Doch die Begegnung mit Mona hat eine besondere Bedeutung für sie. Sie spürt die Stärke und den Stolz, den die Menschen aus Gaza tragen, trotz allem, was sie erlebt haben. "Mona sagt immer, sie sei Palästinenserin, eine Tochter Gazas. Und sie ist stolz darauf."
Keine Rechte, keine Schule, keine Arbeit
Dennoch: Die rechtliche Situation in Kairo ist schwierig für Mona und andere Palästinenserinnen und Palästinenser aus Gaza. Ohne Aufenthaltsstatus bleiben Mona viele Wege versperrt: Ihre Kinder dürfen nicht in die Schule und sie selbst darf nicht arbeiten. Ihre große Tochter brauche jetzt dringend einen Platz in einer Schule, eine Perspektive - etwas, das sie ihnen in Gaza zu bieten hoffte. "In Gaza kannte ich alles und jeden, jeder war bereit zu helfen", sagt Mona. "Die Ägypter sind großartige Menschen, aber die Regierung will uns nicht."
"Gaza ist mein Herz", erzählt Mona. Sie vermisst die Straßen, die Cafés, das Gemeinschaftsgefühl. "Ich liebe Gaza, ich liebe Palästina", sagt sie, ihre Stimme zittert. "Ich weiß nicht, ob mein Haus noch steht. Die Angst, dass es dort wieder Krieg gibt und meine Kinder in Gefahr sind, lässt mich nicht los." Eine Zukunft sieht sie für sie derzeit in Gaza nicht.
Für Mona ist Gaza wie eine verbotene Liebe - ein Ort, der ihr gehört, den sie aber nur aus der Ferne ertragen kann. Sie träumt von einer Rückkehr, "aber nur, wenn es jemals sicher ist".
In Ägypten fand Mona einen kleinen Moment des Friedens, als sie mit Lucy nach Ain Soukhna am Roten Meer fuhr. "Ich konnte meine Sorgen wieder mit dem Meer teilen", sagt sie. Lucy versteht Monas Sehnsucht und erinnert sich an das Leid vieler Geflüchteter: "Die Menschen hatten nichts, nicht einmal Unterwäsche." Für sie ist Helfen eine Herzenssache. Ob Mona allerdings für immer in Kairo bleibt, weiß sie nicht. Denn Mona hofft immer, dass sie irgendwann das Meer in Gaza wiedersehen wird.