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KonflikteIsrael

Israel und die Hamas-Geiseln: Von der Armee zum Protest

20. April 2025

Woche für Woche gehen Tausende auf die Straßen in ganz Israel, um von der Regierung die Freilassung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln zu fordern - vermehrt auch Angehörige der Armee.

Familienangehörige der Geiseln: Menschen halten Schilder mit Fotos ihrer Angehörigen hoch (Jerusalem 2025)
Woche für Woche demonstrieren die Angehörigen der Geiseln in IsraelBild: Ronen Zvulun/REUTERS

Meinungsumfragen der letzten Monate zeigen, dass fast 70 Prozent der Israelis eine Einigung über die Freilassung der verbleibenden 59 Geiseln sehen wollen - von denen 24 noch am Leben sein sollen - und die das vorrangig vor dem Kampf gegen die Hamas sehen.

Piloten der Luftwaffe, ehemalige Geheimdienstler, Angehörige von anderen Einheiten und viele andere Reservisten und Pensionäre der Armee äußern öffentlich ihren Unmut darüber, dass es der Regierung nicht gelungen ist, die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Das Schicksal der Geiseln beschäftigt alle in Israel seit den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober, bei denen 1200 Menschen getötet wurden. 

Ihre Botschaft: Erst die Geiseln freilassen, auch wenn das bedeutet, das der Krieg erstmal beendet würde. Die Hamas - die von vielen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird - könne man später bekämpfen, auch wenn es dann erneut zum Krieg kommen sollte. Ganz anders sieht das Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. In einer aufgezeichneten Videoansprache, die am Samstagabend veröffentlicht wurde, sagte er, er wolle eine Rückkehr der Geiseln aus dem Gazastreifen erreichen, ohne die Forderungen der radikalislamischen Hamas zu erfüllen. "Ich glaube, wir können unsere Geiseln nach Hause bringen, ohne uns den Diktaten der Hamas zu beugen." Er kündigte eine Fortsetzung des Militäreinsatzes im Gazastreifen an. Die Hamas hat sich für ein Ende des Krieges ausgesprochen, lehnt ein Teilabkommen jedoch ab. 

Eine Gruppe von 250 ehemaligen Offizieren des Auslandsgeheimdienstes Mossad hat sich der jüngsten Initiative von Piloten und Besatzungen der Luftwaffe angeschlossen. "Wir schließen uns dem Aufruf an, sofort zu verhandeln, um eine Vereinbarung über die sofortige Rückkehr aller 59 Geiseln zu erreichen, auch wenn dies ein Ende der Kämpfe bedeutet", heißt es in dem offenen Brief. Der Brief schließt mit einer direkten Botschaft an Premierminister Netanjahu: "Die Heiligkeit des Lebens, Herr Ministerpräsident, hat Vorrang vor dem Gott der Rache", in Referenz an einen Bibel-Psalm.

Israelische Regierung "geht in die falsche Richtung" 

Israel hat am 18. März die Waffenruhe gebrochen und seine Militäroffensive in Gaza wieder aufgenommen. Verhandlungen mit der Hamas über die zweite Phase des Waffenstillstandsabkommens fanden nach Medienberichten gar nicht erst nicht statt. In der ersten Phase waren fast 40 israelische und ausländische Geiseln aus dem Gazastreifen freigelassen worden, Israel hatte im Gegenzug fast 2000 palästinensische Gefangene freigelassen.

Der Protest ist weit sichtbar - hier in Tel AvivBild: Jack Guez/AFP

Haim Tomer war Mossad-Abteilungsleiter und stand jahrelang im Dienst des Staates. Für ihn und viele andere war die Entscheidung der Regierung, den Waffenstillstand zu brechen und die Militäroffensive zu verlängern, einer der Gründe, sich zu Wort melden - und die Tatsache, dass den Geiseln nach mehr als 560 Tagen in schlimmsten Bedingungen keine Zeit mehr bleibt.

"Die Menschen beginnen sich zu fragen, wie lange dieser Krieg noch dauern wird, bevor wir unsere Geiseln zurückbekommen", sagte Tomer der DW. "Die Idee unserer öffentlichen Briefe ist es, der israelischen Öffentlichkeit zu sagen, dass die Regierung in die falsche Richtung geht [und] dass diese Richtung die Geiseln nicht zurückbringen wird. Die Geiseln können jeden Tag sterben." 

Politische Taktik von Netanjahu?

Die Offiziere, Reservisten und pensionierten Luftwaffenangehörigen, die die Kampagne der offenen Briefe ins Leben gerufen haben, werfen Netanjahu und seiner Regierung auch vor, das Leben der Geiseln und das der Soldaten für den eigenen politischen Vorteil aufs Spiel zu setzen. "Die Fortsetzung des Krieges trägt zu keinem der erklärten Ziele bei und wird zum Tod der Geiseln, der IDF-Soldaten und unschuldiger Zivilisten sowie zur Erschöpfung der Reservisten führen", schreiben sie. 

Avner Yarkoni, der 35 Jahre lang als Kampfpilot und Leiter der israelischen Zivilluftfahrtbehörde gedient hat, sagt, dass der Krieg anfangs gerechtfertigt gewesen sei, viele nun aber das Gefühl hätten, dass er zu nichts führe - und vor allem nicht zur Freilassung der Geiseln. "Wir haben schließlich verstanden, dass der Premierminister diesen Krieg für immer in die Länge ziehen will", sagt Yarkoni der DW. "Denn wenn der Krieg aufhört, wird es zwei Themen geben: Neuwahlen und eine Untersuchungskommission. Und dann wird er nicht mehr Ministerpräsident sein."

Kritiker verweisen auf Netanjahus Entscheidung, nicht über die zweite Phase des Waffenstillstandsabkommens mit der Hamas zu verhandeln, um seine rechtsextremen Koalitionspartner in der Regierung zu halten. Sie drohen damit, die Regierung zu verlassen, sollte der Krieg beendet werden. Das könnte Netanjahus Koalition zu Fall bringen. Einer der Koalitionspartner hatte dies im Januar getan, als die Feuerpause verkündet wurde, er war aber im März wieder in die Koalition zurückgekehrt.

Ministerpräsident Netanjahu beim Truppenbesuch im nördlichen GazastreifenBild: Handout/GPO/AFP

"Ich habe dem Staat Israel 40 Jahre lang gedient... und ich kann dem Ministerpräsidenten oder auch jedem anderen Minister in die Augen schauen und sagen: 'Sie liegen falsch, wenn es darum geht, die Zukunft Israels zu sichern'", sagt Tomer, der ehemalige Mossad-Mitarbeiter.

Viele argumentieren damit, dass während des gesamten Krieges nur Verhandlungen zur Freilassung einer großen Zahl von Geiseln geführt haben. Die Strategie der Regierung, "maximalen militärischen Druck" auszuüben, gefährde das Leben der Geiseln. "Gegen die Hamas zu kämpfen, während sie Geiseln festhält, ist wie mit gefesselten Händen zu kämpfen", sagt Yarkoni, der ehemalige Kampfpilot. 

Was bedeutet dies für die Armee? 

Die schwelende Kritik unter den Reservisten, von denen viele mehrmals einberufen wurden und bereits hunderte von Tagen Dienst geleistet haben, ist ein potenzielles Problem für das Militär. Israel hat ein relativ kleines stehendes Heer und verlässt sich in Kriegszeiten auf sein viel größeres Reservekorps. Berichten in israelischen Medien zufolge erscheint mittlerweile eine gewisse Anzahl von Reservisten nicht mehr zum Dienst, aus verschiedensten Gründen - genaue Zahlen sind aber nicht bekannt.

Netanjahu wies den Brief der Luftwaffe umgehend zurück und erklärte, er sei von einer "extremistischen Randgruppe verfasst worden, die einmal mehr versucht, die israelische Gesellschaft von innen heraus zu spalten". Er ordnete auch die Entlassung der Reservisten an, die den Brief unterzeichnet hatten, von denen allerdings nur wenige im aktiven Dienst waren. 

Der Brief rief nicht dazu auf, den Dienst zu verweigern, wie es einige Reservisten der Luftwaffe auf dem Höhepunkt der Massenproteste gegen die geplante Justizreform der Regierung im Juli 2023 getan hatten. 

Netanjahus Reaktion hat noch mehr Israelis, darunter Reservisten und pensionierte Angehörige verschiedener Militäreinheiten, des medizinischen Korps, Künstler und andere Berufsgruppen, dazu veranlasst, ihre Solidarität mit den Angehörigen der Luftwaffe zu bekunden. Sie forderten die Regierung zu einem Kurswechsel auf und sprachen dem Ministerpräsidenten offen ihr Misstrauen aus.

Kritik an den Petitionen

Einige sehen die Petitionen auch kritisch. Dahlia Scheindlin, eine Journalistin der Tageszeitung Haaretz, schrieb kürzlich, dass nur wenige Briefe das palästinensische Leiden inmitten der schrecklichen humanitären Situation in Gaza erwähnten. Die Freilassung der Geiseln sei zwar "das Anliegen in Israel, das fast alle vereint", aber es brauche vor allem "ein dauerhaftes Ende des Krieges, gefolgt von einem politischen Rahmen für Frieden - wie unvollkommen auch immer". Nur so könne verhindert werden, dass Geiselnahmen und Gewaltzyklen in Zukunft verhindert werden.   

Kinder in Gaza kämpfen ums Überleben

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Bei einer Demonstration am Samstagabend in Westjerusalem marschierte eine kleine Gruppe von Kriegsgegnern gemeinsam mit anderen, die die Freilassung der Geiseln forderten, und denen, die gegen die Regierung demonstrierten, durch das Stadtzentrum. "Wir waren bei allen Demonstrationen im letzten Jahr immer ganz hinten, eine kleine Gruppe von Menschen, die für ein Ende des Krieges demonstriert hat. Wir wollen, dass die Geiseln nach Hause kommen, aber wir wollen auch, dass der Krieg endet, und zwar für alle", sagte Hila, die ihren Nachnamen nicht nennen wollte, der DW. 

Yarkoni sagt, viele Israelis, er selbst eingeschlossen, seien immer noch traumatisiert von den Angriffen am 7. Oktober. "Wir sind noch nicht darüber hinweg, weil die Geschichten und Videos von diesem Tag immer wieder auftauchen. Es war ein schreckliches Massaker", sagte er. Er fügte jedoch hinzu, dass in dieser Phase des Krieges "wahrscheinlich mehr Zivilisten als Terroristen" getroffen würden. Er hoffe, dass die offenen Briefe den Druck erhöhen, um die Geiseln nach Hause zu bringen.