Israel: Wachsende Kritik an Gaza-Krieg und Netanjahus Plänen
13. August 2025
Die israelische Regierung sieht sich wachsendem Widerspruch gegenüber. Ihr Plan, die Kriegsführung im Gazastreifen auszuweiten, gerät auch im Inland zunehmend in Kritik.
So kam es am vergangenen Wochenende im Land zu einigen der größten Proteste gegen den anhaltenden Militäreinsatz im Gazastreifen. Zehntausende Israelis gingen auf die Straße.
Im Gazastreifen werden noch immer rund 50 israelische Geiseln von der militant-islamistischen, von westlichen und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuften Hamas festgehalten. Ihre Familien fürchten, die von Premier Benjamin Netanjahu bekannt gegebenen Pläne für eine Ausweitung des Gaza-Einsatzes könnten ihre Angehörigen noch stärker gefährden.
"Eine Entscheidung, weitere Teile des Gazastreifens zu besetzen, würde das Leben der Geiseln gefährden", sagt Gil Dickmann, ein Cousin der von ihren Entführern getöteten Geisel Carmel Gat, im DW-Gespräch. "Genau das ist Carmel passiert. Sie befand sich in Rafah, als die Regierung beschloss, Rafah zu besetzen. Ihre Wachen beschlossen, sie und fünf weitere Geiseln hinzurichten."
"Wir können die Geiseln nur mit einem Deal für alle lebend zurückbekommen", sagt Naama Shueka, eine Cousine der Geisel Evyatar David, die kürzlich in einem von der Hamas veröffentlichten Video zu sehen war. "Deshalb rufen wir: Bitte hört auf mit den Kämpfen! Bitte rettet unsere Lieben! Bitte lasst sie nicht verhungern!"
Mehrheit der Israelis will Abkommen
Derweil wächst offenbar die Zahl der Menschen in Israel, die solchen Stimmen aus den Familien der Geiseln zustimmen. Aktuelle Umfragen des überparteilichen Israel Democracy Institute (IDI) zeigen, wie sich die Einstellungen vieler Israelis offenbar geändert haben. Mitte Oktober 2023, kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, waren nur 17 Prozent der Israelis der Meinung, ihre Regierung sollte über die Freilassung der Geiseln verhandeln, selbst wenn dies ein Ende der Kämpfe bedeuten würde. Zum Jahrestag des Angriffs waren es 53 Prozent.
Mitte Juli dieses Jahres ergab eine Umfrage des israelischen Senders Channel 12, dass 74 Prozent der Israelis eine Einigung ihrer Regierung mit der Hamas befürworten würden, um alle Geiseln frei zu bekommen und die Kämpfe im Gazastreifen zu beenden.
Kein großes Mitgefühl für Palästinenser
Gegenüber den Palästinensern zeigen viele Israelis Umfragen zufolge hingegen eine andere Haltung. Viele empfinden demnach weder großes Mitgefühl, noch würden sie die Idee einer Zusammenarbeit mit ihnen begrüßen.
"Inwieweit beunruhigen Sie persönlich die Berichte über Hungersnot und Leid unter der palästinensischen Bevölkerung in Gaza?", wollten die Forscher des IDI Ende Juli in einer weiteren Umfrage wissen. Über drei Viertel der jüdischen Israelis - 79 Prozent - gaben an, nicht oder nur wenig beunruhigt zu sein. Dieser Teil der Befragten erklärte zudem, das israelische Militär unternehme ihrer Meinung nach genug, um unnötiges Leid zu vermeiden. Arabische Israelis hingegen vertraten die gegenteilige Ansicht: 86 Prozent waren sehr oder eher beunruhigt über die Berichte über Hungersnot und Leid im Gazastreifen.
In der Vergangenheit hat das IDI die Israelis auch nach dem aus ihrer Sicht wichtigsten Grund für ein Kriegsende befragt. Über die Hälfte gab an, wichtig sei die Freilassung der verbliebenen Geiseln. Nur sechs Prozent waren der Ansicht, der Krieg solle wegen der hohen Opferzahlen und um des Friedens willen beendet werden.
Es treffe zwar zu, dass jetzt mehr Menschen über die Geschehnisse in Gaza sprächen, meint etwa ein Einwohner aus Tel Aviv im Gespräch mit der DW. Er bat darum, seinen Namen nicht zu nennen, da dieses Thema heikel sei. "Aber der Fokus dabei liegt im Allgemeinen auf den Geiseln und den Soldaten - und dem Unwillen, sich in einen endlosen Krieg hineinziehen zu lassen."
Die Bewohner von Gaza und die Israelis lebten in sehr unterschiedlichen Realitäten, meint der Gesprächspartner. Viele Menschen in Israel interessierten sich nicht sonderlich für die seit 17 Jahren andauernde Blockade des Gazastreifens mit ihren verheerenden Folgen für die Bevölkerung schon vor dem Krieg, so seine Beobachtung, "obwohl der Gazastreifen nur eine Autostunde von Tel Aviv entfernt liegt".
Politischer Rechtsruck?
Im März 2025 gab der Politologe Tamir Sorek von der Pennsylvania State University eine Umfrage in Auftrag. Diese ergab, dass sich 82 Prozent der jüdischen Israelis eine vollständige Vertreibung der Palästinenser aus Gaza vorstellen könnten. Früher als marginal geltende extremistische Einstellungen gegenüber Palästinensern seien nun in den israelischen Mainstream übergegangen - so deutet Sorek die Ergebnisse.
"Diese Einstellungen stammen aus den 1930er Jahren", meint Sorek. "In den 1990er Jahren gewannen sie an Akzeptanz. Damals schwanden die Friedensaussichten, und die Existenzängste der Israelis nahmen zu." Im 21. Jahrhundert hätten dann schließlich auch Kräfte aus dem Bereich des religiös Zionismus an politischem Einfluss gewonnen.
Eine Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Center unter Israelis vom März 2025 führte zu dem Ergebnis, dass nur 21 Prozent glaubten, dass Israel und ein palästinensischer Staat im Rahmen einer sogenannten Zweistaatenlösungfriedlich koexistieren könnten. Dies sei der niedrigste Prozentsatz seit 2013, schreiben die Forscher.
Jüngste Berichte vor Ort arbeitender internationaler Journalisten - unter anderem der britischen BBC, der New York Times und der Süddeutschen Zeitung - über die Einstellungen der einfachen Israelis stützen diesen Befund.
Der israelische Autor Etgar Keret protestiert seit Monaten gegen das Vorgehen seiner Regierung. Er sieht es positiv, dass sich immer mehr Landsleute der Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen anschlössen.
"Ich würde mir wünschen, dass die Menschen, die an meiner Seite kämpfen, für ein universelles, liberales und menschenfreundliches Ziel eintreten", sagt er der DW. "Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, wollen wir im Grunde dasselbe."
Informationsquelle Social Media
Keret kritisiert auch die Medienberichterstattung in seinem Heimatland: In den Nachrichten würden "Woche für Woche die widersprüchlichsten Versionen präsentiert", moniert er. "Nichts ist einheitlich, und sehr wenig ergibt Sinn."
Weit verbreitet sind Bilder aus dem Gazastreifen vor allem in sozialen Medien. Über drei Viertel befragter Israelis geben an, viele oder zumindest einige "Bilder oder Videos gesehen zu haben, die die weit verbreitete Zerstörung im Gazastreifen zeigen", ergab eine weitere IDI-Umfrage im April 2025.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.