Israelis und Palästinenser - auf ewig gespalten?
8. Oktober 2025
Auch wenn in Ägypten gerade um ein Ende des Krieges im Gazastreifen gerungen wird, zeigen Umfragen ganz klar: Die meisten Israelis und Palästinenser haben das gegenseitige Vertrauen ineinander verloren - und mit ihm auch die Hoffnung, dass sich der Konflikt eines Tages wirklich beilegen lässt.
Besonders deutlich wurde die Entfremdung in einer im August veröffentlichten Umfrage der Hebräischen Universität in Jerusalem: 62 Prozent der befragten Israelis stimmten der Aussage zu, es gebe "keine Unschuldigen in Gaza". Betrachtet man nur die jüdischen Israelis, lag dieser Wert sogar bei 76 Prozent.
"Mich erschüttert, wie wenig Menschlichkeit es gibt"
"Meine größte Sorge, wenn es um Israel geht, ist die fehlende Empathie", sagt Corey Gil-Shuster im DW-Interview. Er leitet das Masterprogramm zu Konfliktlösung und Mediation an der Universität Tel Aviv. "Die Menschen haben nicht einmal Empathie für Kinder, Alte oder für Kranke wie zum Beispiel Krebspatienten."
Seit 2012 spricht Gil-Shuster in seiner Webvideo-Serie "The Ask Project" regelmäßig kontroverse Themen an: Er bittet seine Zuschauer um Fragen und richtet sie in Straßenumfragen direkt an beide Bevölkerungen. So fragte er in einem Video Palästinenser, ob sie weitere Aktionen wie den Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 befürworten würden. In einem anderen Clip fragte er Israelis, ob sie glücklich seien über das Leid der Menschen in Gaza.
Auf die Frage nach Empathie mit Alten, Kranken und Kindern habe eine Frau bei einem Dreh in Nordisrael kürzlich einfach nur mit den Schultern gezuckt, erzählt er traurig. "Ich denke nicht einmal daran, was die Welt über uns denkt, das ist ein anderes Thema. Mich besorgt, was das mit uns macht. Mich erschüttert, wie wenig Menschlichkeit es bei diesem Thema gibt", so Gil-Shuster.
"Fast vollständige Entmenschlichung" seit dem 7. Oktober 2023
Einen absoluten Tiefpunkt im Verhältnis beider Seiten zueinander macht auch Khalil Shikaki aus. Der Politikwissenschaftler leitet das Palästinensische Zentrum für Politik- und Meinungsforschung PCPSR in Ramallah. "In den letzten beiden Jahren gab es eine fast vollständige Entmenschlichung; beide Gesellschaften haben einen Punkt erreicht, an dem sie nicht willens sind, die Menschlichkeit der anderen Seite anzuerkennen."
Diese Entwicklung habe auch deutliche Auswirkungen darauf, welche Kompromisse die Menschen für eine Friedenslösung einzugehen bereit seien, sagt Shikaki im DW-Interview.
Shikaki führt regelmäßig Meinungsumfragen in den Palästinensischen Gebieten durch und ist immer wieder auch an gemeinsamen Erhebungen mit Israelis beteiligt. Seine jüngste Umfrage von Mai 2025 brachte unter anderem große Skepsis der Palästinenser zu Tage: Im Gazastreifen glaubten 69 Prozent und im Westjordanland sogar 88 Prozent der Befragten nicht daran, dass Israel sich aus dem Gazastreifen zurückziehen würde, sollte die Hamas ihre Waffen abgeben.
Shikaki weist jedoch auch darauf hin, dass gegenseitiges Vertrauen keine Vorbedingung für eine Wiederannäherung sein muss, sondern im Laufe eines Friedensprozesses gedeihen kann: "Wenn wir erst darauf warten, dass Palästinenser und Israelis einander vertrauen, wird das niemals geschehen."
Erste Schritte auf einem langen Weg der Wiederannäherung?
Doch wie könnte eine Wiederannäherung nach jahrzehntelangem Konflikt vonstatten gehen? Damit beschäftigt sich der Nordire Gary Mason, der mit seiner Organisation "Rethinking Conflict" die Erfahrungen des Nordirlandkonflikts an Menschen aus dem Nahen Osten weitergibt. In beiden Fällen gebe es Streitfragen bei den Punkten Land, Identität und Religion, erläutert Mason im DW-Interview.
Abgesehen von den Extremen wünschten sich Israelis wie Palästinenser eine Lösung für den Konflikt. Selbst wenn es einen Waffenstillstand im Nahen Osten gebe, könnte es nach Masons Einschätzung bis zu einem Friedensschluss noch fünf oder zehn Jahre dauern. "In Nordirland müssen wir 27 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen immer noch Arbeit an unserem Friedensprozess leisten", so Mason.
Laut dem Konfliktforscher Corey Gil-Shuster haben sich viele Menschen bereits mit dem Konflikt abgefunden und in der Situation eingerichtet. Aber möglicherweise könnte die richtige politische Kommunikation diesen Zustand ändern. "Der erste Schritt ist eine Marketing-Kampagne: Wir sind es alle leid, wir wollen nicht so weitermachen, und deshalb handeln wir jetzt", sagt er. "Man muss den Menschen eine Vision geben, was das bedeuten könnte. Und dann muss man weiter darüber reden, vermarkten, als wären Israel und Palästina ein Produkt."
Kann der Trump-Plan den Konflikt befrieden?
Einen neuen Aufschlag hierfür hat Ende September US-Präsident Donald Trump geliefert: Im Beisein von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu präsentierte er einen 20-Punkte-Plan, der als Sofortmaßnahmen unter anderem das Einstellen der Kampfhandlungen und die Freilassung aller Geiseln vorsieht. Ein internationales Gremium unter Führung des britischen Elder Statesman Tony Blair soll weitere Schritte überwachen.
In Israel und den Palästinensergebieten selbst ist das Vertrauen in die eigene politische Führung gering: In Israel ist nur noch eine Minderheit zufrieden mit der Regierung Netanjahu. Und der Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, genießt kaum noch Legitimität, da seit 2006 keine Wahl mehr abgehalten wurde. In der jüngsten PCPSR-Umfrage forderten ihn 81 Prozent der Befragten zum Rücktritt auf.
In der aktuellen Situation sei starke Führung jedoch der einzige mögliche Ausweg aus unlösbar scheinenden Konflikten, glaubt Gil-Shuster. "Es braucht eine starke Führungspersönlichkeit, die zumindest auf der eigenen Seite dafür eintreten kann, anders zu denken - vielleicht sogar auf der Gegenseite. Ich sehe aber niemanden am Horizont, der das könnte."
Wie realistisch ist eine Zwei-Staaten-Lösung noch?
Um einen glaubwürdigen Friedensprozess anzustoßen, müssten also glaubwürdige Akteure von außen diesen unterstützen, sagt Politikwissenschaftler Shikaki - namentlich die USA als engster Verbündeter Israels sowie die arabischen Staaten als Anwälte der Palästinenser.
"Auf Grundlage der gemeinsamen israelisch-palästinensischen Befragungen ist sehr deutlich abzulesen, dass Israelis in diesem Fall willens wären, ihre Ansichten zu ändern und eine Zwei-Staaten-Lösung zu unterstützen."
Unter den Palästinenserinnen und Palästinensern erhalte die Zwei-Staaten-Lösung gerade neuen Aufwind - während zugleich zwei Drittel in Umfragen an der Durchführbarkeit zweifeln.
Im September hatten Frankreich, Großbritannien, Australien und weitere Staaten den überwiegend symbolischen Schritt einer Anerkennung Palästinas vollzogen. Der Trump-Plan sieht nach Reformen in der palästinensischen Verwaltung zumindest einen "glaubhaften Pfad hin zu palästinensischer Selbstbestimmung und Staatlichkeit" vor.
Die israelische Regierung lehnt einen mit vollen Rechten ausgestatteten Palästinenserstaat vehement ab und hat zuletzt den Siedlungsbau im besetzten Westjordanland weiter intensiviert. Und auch der auf Umfragen basierende Friedens-Index der Tel Aviv University dokumentiert auf israelischer Seite sinkende Zustimmung zu einer Zwei-Staaten-Lösung: Im April/Mai 2025 sprachen sich nur noch 21 Prozent der jüdischen Israelis für eine Zwei-Staaten-Lösung aus.
Wiederannäherung trotz räumlicher Trennung?
Ohnehin ist das besetzte Westjordanland durch israelische Siedlungen inzwischen derart fragmentiert, dass Kritiker einen Palästinenserstaat schon mangels eines zusammenhängenden Staatsgebiets für unrealistisch halten.
Doch das Beispiel Nordirland zeigt, dass auch ein verworrenes Nebeneinander kein Ausschlusskriterium für eine Wiederannäherung sein muss. In der Hauptstadt Belfast sind bestimmte unionistisch beziehungsweise republikanisch geprägte Gebiete nach wie vor durch Mauern getrennt, deren Tore jeden Abend verschlossen werden. "Wenn die Zeit reif ist, werden sie abgerissen", sagt Gary Mason. "Aber nach einem Konflikt sind 27 Jahre keine lange Zeit, vor allem, weil hier die Erinnerungen so stark sind."
Mason beschäftigt sich seit den frühen 1990ern mit Konflikten. Damals verhandelten Israelis und Palästinenser im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses - "und Nordirland galt als der große, unlösbare Konflikt", sagt Mason.
Heute sind es Israelis und Palästinenser, von denen mehr als ungewiss ist, ob sie sich in näherer Zukunft aussöhnen könnten.