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KonflikteNahost

Israels Armee: Palästinenser als menschliche Schutzschilde?

Jan-Christoph Kitzler (Korrespondent ARD Tel Aviv)
8. September 2024

Palästinensische Zivilisten berichten, israelische Soldaten hätten sie gezwungen, in Uniform gefährliche Orte im Gazastreifen mit Kameras auszukundschaften. Eine Menschenrechtsorganisation kennt diese Vorwürfe.

Mehrere Streitkräfte der israelischen Armee vor einem Tunnel der Hamas
Mitglieder der israelischen Streitkräfte vor einem Tunnel der Hamas: Wurden Zivilisten vorgeschickt? (Bildmaterial: IDF) Bild: IDF/Xinhua/picture alliance

In einem Zelt in Chan Yunis, der zweitgrößten Stadt des Gazastreifens, sitzt Mohammad S. und erzählt. Soldaten der israelischen Armee hätten ihn zu Einsätzen gegen die Hamas und andere islamistische Milizen im Gazastreifen gezwungen.

Seit etwa elf Monaten tobt hier der Gaza-Krieg zwischen Israel und islamistischen Organisationen, die von Deutschland, der Europäischen Union, den USA und anderen Ländern als Terrororganisationen eingestuft werden. Auslöser war ein beispielloser Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem die islamistischen Milizen nach israelischen Angaben mehr als 1200 Menschen töteten und 251 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppten.

Israel behauptet, die Hamas nutze die Zivilbevölkerung in Gaza als menschliche Schutzschilde. Als Indizien wurden zum Beispiel Bilder von Waffen- und Munitionsfunden in Schulen und Krankenhäusern vorgelegt. Doch Mohammad S. berichtet von einer weiteren Realität.

"Sie [Soldaten der israelischen Armee IDF, Anmerkung der Redaktion] haben uns die Augen verbunden und uns die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Sie haben uns in ihren Jeeps mitgenommen und wir saßen in einem Haus. Am nächsten Tag haben sie uns dann mit Gewalt mitgenommen und gesagt: Entweder kommt ihr mit oder wir töten euch," erzählt S. 15 Tage lang sei das so gegangen. Seine Aufgabe sei es gewesen voranzugehen, wenn Gefahr drohte.

"Per Kopfhörer gesteuert"

Er berichtet weiter: "Sie haben mich und jemand anderen losgeschickt. Sie haben uns eine Kamera in die Hand gegeben, zusätzlich zur Kamera am Helm. Und sie haben uns per Kopfhörer gesteuert und gesagt: Bleib hier, geh dorthin, filme dieses Haus, halte auf dieser Straße."

Wenn seine Aussagen stimmen, hat die israelische Armee ihn als menschliches Schutzschild eingesetzt. Er musste laut seinen Schilderungen in Häuser gehen, bevor die Truppen hineingingen, und Gefahren auf sich nehmen, denen sich israelische Soldaten nicht aussetzen wollten.

Nadav Weiman, Direktor der israelischen Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence, bestätigt solche Berichte. Seit Dezember meldeten sich immer wieder Soldaten bei ihm, die im Gaza-Krieg im Einsatz waren und berichtet hätten, wie palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde eingesetzt würden. Die israelischen Streitkräfte nähmen Palästinenser aus den sogenannten Humanitären Zonen und brächten sie zu den Kampftruppen in Gaza, in unterschiedliche Einheiten, sagt Weiman. In Armeeuniform und teilweise mit Kamera an Helm oder Brust würden Palästinenser losgeschickt, um Tunnel oder Häuser zu durchsuchen - und zu prüfen, ob es Bomben, Sprengfallen oder Ähnliches gebe.

Nadav Weiman von der NGO Breaking the Silence bekommt mehrere Berichte pro Woche von israelischen Soldaten, die den Einsatz von Zivilisten als Schutzschilde bestätigenBild: Jan Christoph Kitzler/ARD

An vielen Orten im Gazastreifen haben israelische Truppen Eingänge zu Tunneln entdeckt, aus denen heraus Kämpfer der Hamas operieren. Sie zu betreten, ist ein großes Risiko für die Soldaten. Das gilt auch für den Häuserkampf in vielen Teilen des Gazastreifens.

Mehrere Berichte pro Woche

Breaking the Silence, die israelische Nichtregierungsorganisation, bekommt zwei bis drei neue Berichte von Soldaten pro Woche. Für Direktor Weiman ist das ein Beleg, dass es nicht um Einzelfälle geht, sondern dass die Praxis, palästinensische Zivilisten in gefährliche Situationen vorauszuschicken, weit verbreitet ist - seit Monaten, im gesamten Gazastreifen, in verschiedenen Einheiten.

Weiman gibt die Zeugenberichte wieder: "In einer Einheit hat der Offizier gesagt: Du musst nicht über Kriegsverbrechen nachdenken, ich bin dein Offizier. Du musst nicht nachdenken, sondern Befehle ausführen." Woanders habe man gesagt: "Willst Du lieber sterben? Wir ziehen es vor, dass der Palästinenser stirbt."

Im Zweifel zur Zielscheibe

Auch Mohammad A. hatte Angst, zu sterben. Auch er wurde wie S. nach eigener Aussage von den Soldaten 15 Tage lang mit Waffengewalt gezwungen, in Gebäude zu gehen. Man habe ihm eine israelische Uniform angezogen, damit im Zweifel er zur Zielscheibe würde - und nicht die israelischen Soldaten. Verschanzte Hamas-Kämpfer hätten ihn töten können oder er hätte durch Sprengfallen oder Bomben sterben können.

Er berichtet, wie er vor den Soldaten in viele Häuser gehen musste. Drinnen habe er filmen und jede Tür öffnen müssen, erzählt er dem Studio des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks ARD in Tel Aviv. Manchmal sei auch eine Drohne dabei gewesen, wenn er in die Häuser ging, sagt A.

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Anhaltende Alpträume

Im April hätten ihn die israelischen Soldaten gehen lassen. Er hat immer noch Alpträume, zum Beispiel von einem Einsatz in einem Krankenhaus, das er für die israelischen Truppen durchsucht habe: "Es war der Horror, denn im Nasser-Krankenhaus waren überall Leichen. Ich kann nicht glauben, wie ich da rausgekommen bin. Ich habe immer noch Alpträume und wache in der Nacht auf."

Bei den Palästinensern, die laut den Schilderungen in Gaza so eingesetzt werden, handelt es sich um unschuldige Zivilisten. Das zeigt sich auch daran, dass sie nach einiger Zeit wieder freigelassen werden.

Die israelische Armee hat auf ARD-Anfrage mit einer Standardantwort reagiert. Darin heißt es: "Die Richtlinien der IDF [Israeli Defence Forces, Anmerkung der Redaktion] verbieten den Einsatz gefangener Zivilisten in Gaza in militärischen Missionen, die sie in Gefahr bringen. Die Vorwürfe wurden zur Untersuchung an die Zuständigen weitergeleitet."

Ein politischer Krieg?

Für Nadav Weihman von Breaking the Silence widersprechen diese Vorwürfe nicht nur dem humanitären Völkerrecht - sondern tatsächlich auch den ethischen Standards der israelischen Armee: "Wir glauben, dass wir eine Armee brauchen und uns verteidigen müssen. Aber was wir in Gaza sehen, ist keine Selbstverteidigung, das ist ein politischer Krieg." Und wenn über eine politische Lösung gesprochen werde, dann sei es natürlich entscheidend aufzudecken, wie die IDF in Gaza operiert.

Mohammad S. zeigt noch einen Verband über seiner Brust. Den trägt er seit seinem letzten Einsatz: Wieder wurde er vorausgeschickt. Dann fiel ein Schuss. Aufgewacht ist er im Krankenhaus. Immerhin hat er seine Einsätze für die israelische Armee überlebt.

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