Israels fragile Kabinettsbildung
3. Juni 2021Israels neues Koalitionsbündnis könnte eine der ungewöhnlichsten Regierungen werden, die das Land in den letzten Jahren gesehen hat - und das ohne den langjährigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Kurz vor Ablauf der Frist konnte Jair Lapid, Chef der liberalen Zukunftspartei Jesh Atid, der mit der Bildung einer Koalitionsregierung beauftragt wurde, Israels Präsident Reuven Rivlin die gute Nachricht überbringen: Er könne eine Regierung bilden. "Ich verspreche Ihnen, Herr Präsident, dass diese Regierung daran arbeiten wird, allen Bürgern Israels zu dienen, einschließlich derer, die nicht daran beteiligt sind, dass es die respektieren wird, die dagegen sind, und alles dafür in ihrer Macht stehende tun wird, alle Gruppen der israelischen Gesellschaft zu vereinen."
Das vielfältige Mehrparteienbündnis umfasst ehemalige Netanjahu-Verbündete, rechte Hardliner, Zentristen und Linksliberale. Die neue Koalition hat auch erstmals die Unterstützung der kleinen arabischen Ra'am Partei, des politischen Arms der islamischen Bewegung in Israel, die die Vereinbarung zwei Stunden vor Ablauf der Frist unterzeichnete. Ihr Parteichef Mansour Abbas hatte eine stärkere Beteiligung der palästinensischen Bürger Israels an der israelischen Politik als Wahlversprechen gegeben. Die Entscheidung wurde von israelischen Medien als 'historisch' beschrieben.
Ende der politischen Krise?
Die sogenannte "Einheitsregierung" oder das "Bündnis des Wandels" könnte eine politische Krise in Israel beenden, die seit über zwei Jahren andauert und vier Parlamentswahlen erforderlich gemacht hat. Sie könnte auch Israels langjährigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu aus dem Amt heben. Eine "Einheitsregierung" von Netanjahu und seinem früheren Rivalen Benny Gantz (Blau-Weiß) hielt nur kurz. Neuwahlen fanden im März statt. "Es ist noch nicht vorbei, aber gestern haben Jair Lapid und Naftali Bennett einen großen Schritt nach vorne gemacht bei der Bildung einer alternativen Regierung", schrieb etwa die Tageszeitung Yedioth Ahronoth.
Aber noch ist nicht alles entschieden. Das neue Bündnis muss noch von der Knesset bestätigt werden, bevor es als neue Regierung vereidigt werden kann. Israelische Medien berichteten von intensivem Druck auf Abgeordnete, vor allem auf die der ultra-rechten Jamina-Partei, um sie bei der Knesset-Wahl davon abzuhalen, für die neue Koalition zu stimmen. Im rechten Lager ist man besonders über dieses breite Bündnis verärgert. Daher versuchen einige, die Abgeordneten der Jamina-Partei davon abzuhalten, für die neue Koalition zu stimmen. Das Bündnis kommt momentan auf eine knappe Mehrheit von 61 der 120 Sitze im Parlament der israelischen Knesset. Eine Parlamentsmehrheit gilt momentan nicht als gesichert.
Und doch hoffen viele auf ein Ende der politischen Krise - nach vier Wahlen innerhalb von zweieinhalb Jahren. "Endlich könnte es sein, dass Bibi (Benjamin Netanjahu) geht. Es geht gar nicht darum, ob er ein guter oder schlechter Ministerpräsident ist, es ist nicht gesund, wenn jemand so lange in einer Machtposition ist," sagte Studentin Avia Farrah Hadal am Mittwoch in Jerusalem. "Es macht die Leute korrupt, und wir brauchen eine Veränderung. Wir brauchen neue Leute, und das wird hoffentlich zu einer Veränderung führen."
Ein anderer junger Passant würde lieber eine andere Lösung sehen. "Mir tut diese neue Einheitsregierung leid. Es geht mehr darum, gegen 'Bibi' zu sein, als um Einheit. Ich möchte die Einheit, aber nicht um jeden Preis," sagt Ori Fridlich, auch auf dem Weg zum Studium. "Ich denke, dass es irgendwann eine Veränderung geben muss, aber ich möchte, dass Bibi bleibt, er ist der beste Ministerpräsident, den wir im Staat Israel hatten."
Architekt eines Acht-Parteien-Bündnisses
Jair Lapid, Chef der zweitgrößten Jesh Atid Partei, gilt als Architekt des breiten Parteien-Bündnis. Ohne sein Bemühen und seinen Verzicht, Naftali Bennett den Vortritt zu lassen, damit dieser zuerst Ministerpräsident werden kann, wäre das Bündnis wohl kaum zustande gekommen. "Bis Ende dieser Woche können wir in einer anderen Ära, mit einem anderen Ministerpräsidenten sein," sagt der 57-Jährige am Montag.
Das Acht-Parteien-Bündnis gilt als eine der ideologisch breitesten Koalitionen, die das Land in den letzten Jahren gesehen hat. Dazu gehören sollen künftig die Mitte-Links Arbeitspartei mit Merav Michaeli, die linke Meretz Partei, aber auch ultra-rechte Parteien wie die "Neue Hoffnung" des früheren Netanjahu-Vertrauten Gidon Saar und Israel Beitenu von Avigdor Liberman.
Beobachter gehen davon aus, dass die Regierung versuchen wird, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu regieren und möglichst kontroverse Themen zu umgehen, was nur begrenzt möglich sein wird. Die Parteien liegen zum Teil weit auseinander - auch was religiöse oder LGBTQ-Themen angeht. Da zeichnen sich Probleme ab. Beobachter sind daher skeptisch, wie lange das Bündnis zusammenhalten wird.
Vom High-Tech-Unternehmer zum Politiker
Der rechte Naftali Bennett galt seit der letzten Parlamentswahl als Königsmacher. Er hatte sich lange Zeit offengehalten, ob er einer rechts-religiösen Koalitionsregierung unter Netanjahu beitreten würde oder einer "Koalition des Wandels" mit Jair Lapid. Die Vereinbarung mit Lapid sieht ein Rotationsprinzip an der Regierungsspitze vor: Zunächst würde Naftali Bennet für zwei Jahre Ministerpräsident werden, gefolgt von Jair Lapid, der in der Zwischenzeit Außenminister und stellvertretender Regierungschef wäre. Die Vereinbarung mit Bennett wird kritisch gesehen, denn Bennetts ultra-rechte nationalreligöse Jamina-Partei (Jamina bedeutet: nach rechts) hatte nur sieben Sitze bei der letzten Wahl errungen, und nur sechs der Abgeordneten werden die Regierung unterstützen.
Der 49-Jährige Bennett kommt aus der High-Tech-Branche und ist vor über einem Jahrzehnt in die Politik gewechselt. Viele Jahre hat er eng mit Benjamin Netanjahu zusammengearbeitet, war sein Büroleiter und zeitweise auch der Chef des Siedlerrats im besetzten Westjordanlands. Bennett lehnt einen souveränen palästinensischen Staat ab und hat sich für die Annektierung von Teilen des besetzten Westjordanlands ausgesprochen. Beobachter bezweifeln aber, dass der politische Hardliner als Regierungschef seine ideologischen Ansichten in konkrete Politik umsetzen kann.
Ende der Ära Netanjahu? Noch nicht ganz.
Premierminister Benjamin Netanjahu und seine konservative Likud-Partei wären die größten Verlierer. Nach zwölf Jahren im Amt müsste er die Residenz an der Balfour-Straße in Jerusalem räumen. Das Viertel war zuletzt Schauplatz von monatelangen Anti-Regierungs-Demonstrationen. Netanjahu muss sich auch seit letztem Jahr wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht verantworten. Als Ministerpräsident war er von Gesetzes wegen nicht zu einem Rücktritt gezwungen. Aber auch seine langjährigen Koalitionspartner, die ultra-orthodoxen Parteien, verlieren ihre Machtposition - es sei denn, es gäbe Bestrebungen, in die neue Koalition einzusteigen.
Als sich die mögliche Vereinbarung zwischen Lapid und Bennett abzeichnete, wurden auch Netanjahus verärgerte Reaktionen deutlicher. Er nannte seinen früheren Protégé, Naftali Bennett, "Betrüger des Jahrhunderts", nachdem dieser am Sonntag ankündigt hatte, dass er eine mögliche Koalition des Wandels mit Jair Lapid eingehen würde. Netanjahu warnte auch davor, dass die Abschreckungskraft Israels in Gefahr sei.
"Wie werden wir in den Augen unserer Feinde aussehen? Was werden sie in Gaza oder dem Iran tun? Was werden sie in den Fluren der amerikanischen Regierung in Washington sagen? Wird sich diese Regierung gegen den Iran stellen? Wird diese Regierung den gefährlichen Nuklear-Deal mit dem Iran unterstützen?", sagte Netanjahu. Sein Fokus könnte sich nun auf mögliche innerparteiliche Initiativen im Likud richten, bei denen über eine Zukunft ohne den langjährigen Parteichef nachgedacht wird, so israelische Medien. Sollte die Koalition zustande kommen, könnte er künftig auf der Oppositionsbank sitzen.