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PolitikIsrael

Israels Justizreform und die Folgen

24. Juli 2023

Ungeachtet monatelanger Massenproteste hat die Knesset mit der Justizreform ein zentrales Gesetz verabschiedet. Wie die Reform die Gewaltenteilung verändert und die Spaltung der israelische Gesellschaft vertieft.

Israel | Justizreform | Protest
9,3 Millionen Menschen, vereint unter einem Banner - aus Sicht ihrer Gegner gefährdet die Justizreform das Zusammenleben in IsraelBild: MENAHEM KAHANA/AFP/Getty Images

Wenn über Monate hinweg immer wieder bis zu eine Viertelmillion Menschen demonstrieren gehen, dann muss es um viel gehen. Erst recht, wenn in dem Land gerade einmal 9,3 Millionen Menschen leben.

Israel erlebt seit Januar die größten Proteste seiner Geschichte - wohl auch, weil die von der Regierung angestoßene Justizreform das Land deutlich verändern könnte. Die Knesset in Jerusalem verabschiedete nun ein weiteres Herzstück der Reform, ungeachtet des massiven Gegenwinds.

Was sind die Kernelemente der Justizreform?

Die rechts-religiöse Regierungskoalition unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative in mehreren Punkten neu ausrichten. Anstelle einer Verfassung regeln Einzelgesetze das Zusammenwirken der Institutionen in Israel.

Traditionell hat das Oberste Gericht in Israel eine verhältnismäßig starke Stellung, weil es keine zweite Parlamentskammer gibt, die die Gesetzgebung der Knesset kontrollieren könnte.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf der Regierungsbank der Knesset in JerusalemBild: Maya Alleruzzo/AP/picture alliance

Aktuell ging es vor allem um die sogenannte Angemessenheitsklausel: Bisher konnte das Oberste Gericht Entscheidungen der Regierung als "unangemessen" einstufen und für nichtig erklären. Diese Kompetenz will Netanjahus rechts-religiöse Regierung den Richtern nun entziehen. Nach einer ersten Abstimmung Mitte Juli fand nun das entscheidende Votum unter den 120 Knesset-Abgeordneten statt: Alle 64 Parlamentarier der Koalition stimmten mit Ja, sodass das Gesetz nun verabschiedet ist. 

Bereits im Herbst soll laut Berichten das nächste Vorhaben durch die Knesset gebracht werden: Es soll der Regierung mehr Kompetenzen in der Besetzung von Richterämtern einräumen. In diesem Bereich hatte Netanjahu Ende Juni ein teilweises Einlenken angedeutet. In einem Interview des "Wall Street Journal" gab er außerdem an, die sogenannte Aufhebungsklausel sogar komplett fallen lassen zu wollen. Damit hätte das Parlament sich selbst das Recht eingeräumt, Urteile des obersten Gerichtshofs faktisch aufzuheben.

Wie argumentieren die Befürworter?

Richter werden - anders als die 120 Knesset-Abgeordneten - nicht direkt vom Volk gewählt. Deshalb sehen die Regierung und ihre Anhänger in der Justizreform eine Stärkung der Demokratie. Aus ihrer Sicht hat die Justiz eine Vormachtstellung in der israelischen Gewaltenteilung, und die Reform verbessert das Gleichgewicht der Institutionen untereinander.

Zuletzt gingen verstärkt auch auch Unterstützer der Reform auf die Straße. Medienberichten zufolge wurden in Tel Aviv am Sonntagabend rund 50.000 Teilnehmende gezählt, darunter demnach viele Bewohner anderer Landesteile sowie Siedler aus dem von Israel besetzten Westjordanland. Im Anschluss an die Kundgebung wurden Zusammenstöße mit Einsatzkräften sowie ein Angriff auf ein Kamerateam gemeldet.

Das aktuelle Kabinett steht so weit rechts wie noch keines in Israel - nicht zuletzt durch Sicherheitsminister Itamar Ben-GvirBild: EyalWarshavsky/ZUMA Wire/IMAGO

Innerhalb der Regierungskoalition wird die Justizreform vor allem von Rechtsnationalisten und Religiösen vorangetrieben. Der rechtsradikale Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, erklärte zuletzt, seine Partei "Jüdische Stärke" lehne "jede Aufweichung" des Gesetzentwurfs als "Kastration" ab. Er forderte die Koalition auf, das Gesetz in seiner jetzigen Form zu verabschieden sowie weitere Teile der Justizreform voranzubringen.

Was befürchten ihre Gegner?

Aus Sicht vieler Bürgerinnen und Bürger plant die Regierung nicht weniger als die "Zerstörung der Demokratie" - so war es immer wieder auf Plakaten und Transparenten zu lesen. Dabei werden auch Vergleiche zu Polen und Ungarn gezogen, wo die jeweiligen Regierungen ebenfalls den Justizapparat nach ihren Vorstellungen umgebaut haben. Beide Staaten gelten als Sorgenkinder der Europäischen Union in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung und sind deshalb jeweils mit mehreren Vertragsverletzungsverfahren konfrontiert.

In einem Protestcamp direkt neben der Knesset, dem israelischen Parlament, fordern Demonstrierende die Abkehr von den ReformplänenBild: DEBBIE HIL/UPI PhotoL/IMAGO

In Israel droht durch die Justizreform aus Sicht ihrer Kritiker auch eine tiefere Spaltung der Gesellschaft: In der Vergangenheit hatte das Oberste Gericht immer wieder Werte wie Gleichstellung der Geschlechter und Schutz sexueller Minderheiten gegen Einschränkungen von streng religiöser Seite verteidigt. Deshalb befürchten viele Israelis, die sich als säkular, links oder liberal beschreiben würden, einen Umbau im Sinne des ultra-orthodoxen Flügels.

Das Thema erreicht inzwischen sogar die Armee, deren Pflichtdienst für Männer und Frauen über Jahrzehnte als Schmelztiegel und gesellschaftlicher Kitt in dem Einwanderungsland galt (mit Ausnahmen für Ultraorthodoxe, die mehrfach vom Obersten Gericht als diskriminierend ausgesetzt wurden). Am Wochenende drohten 1142 Reservisten der israelischen Luftwaffe, ihren freiwilligen Dienst zu quittieren, falls die Justizreform verabschiedet wird. "Wir sind alle gemeinsam dafür verantwortlich, die tiefe Spaltung, Polarisierung und den Riss im Volk zu überwinden", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung.

Aufgrund einer höheren Geburtenrate nimmt der Anteil der ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden in der israelischen Gesellschaft seit Jahrzehnten zu. Der Erklärung schlossen sich auch Mitglieder zahlreicher weiterer Einheiten an, darunter auch Reservisten der für In- und Ausland zuständigen Geheimdienste Shin Bet und Mossad.

Freiheit und Demokratieliebe - viele liberale Israelinnen und Israelis sehen durch die Reform ihre Stellung in der Gesellschaft gefährdetBild: Amir Cohen/REUTERS

Wer bemüht sich noch um eine Einigung?

Sichtbare Vermittlungsbemühungen zeigte bis zuletzt vor allem Staatspräsident Itzhak Herzog. Er sieht Israel laut eigenem Bekunden in einem "nationalen Notstand" und forderte die Abgeordneten auf, Mut zu zeigen und eine Einigung zu ermöglichen. Herzog fuhr am Vorabend der Abstimmung zu einem Schlichtungsgespräch ins Krankenhaus: Ministerpräsident Netanjahu musste sich einen Herzschrittmacher einsetzen lassen und wurde erst Stunden vor der Abstimmung aus der Klinik entlassen.

Innerhalb der Regierungskoalition trat Verteidigungsminister Joav Galant als Vermittler auf. Als Reaktion auf die Erklärung der Luftwaffen-Reservisten vom vergangenen Freitag gab Galant an, er wolle sich um einen "Konsens" bemühen. Der Minister hatte im März zu einem Stopp der Reform aufgerufen und vor den Folgen für die nationale Sicherheit gewarnt. Netanjahu entließ seinen Likud-Parteikollegen daraufhin, musste ihn nach massiver öffentlicher Kritik daran jedoch zurück ins Kabinett holen.

Wie geht es jetzt weiter?

Erst einmal stellen sich die Behörden auf zunehmend wütendere Proteste ein: Polizeichef Kobi Schabtai sagte dem Sender Channel 12 News, die Polizei bereite sich darauf vor, ein Eindringen von Demonstranten in die Knesset zu verhindern.

Zivilgesellschaftliche Gruppen wie das "Movement for Quality Government" gaben sofort nach der Abstimmung in der Knesset an, die revidierte Angemessenheitsklausel vom Obersten Gerichtshof überprüfen zu lassen. Die Richterinnen und Richter sollen also überprüfen, ob ihre eigene Teil-Entmachtung verfassungsgemäß ist. Sollten sie diese Frage mit Nein beantworten, stünde Israel wohl endgültig am Rand einer Staatskrise. Um diese abzuwenden, müsste die Regierung wohl die Justizreform zurückziehen - ein Szenario, für das Beobachter bereits den Bruch der Koalition erwarten.

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