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PolitikNahost

Israels Oberstes Gericht prüft die Justizreform

11. September 2023

Seit neun Monaten gehen zehntausende Israelis auf die Straße, um gegen die umstrittene Justizreform ihrer Regierung zu protestieren. Nun muss der Oberste Gerichtshof eine wichtige Entscheidung treffen.

Menschen protestieren mit israelischen Fahnen gegen die umstrittene Justizreform in Tel Aviv, Israel
Die Proteste gegen die umstrittene Justizreform halten an, hier am 5. August 2023 Bild: Mostafa Alkharouf/AA/picture alliance

Was ist bislang passiert?

Mit 64 Ja-Stimmen verabschiedete am 24. Juli Israels rechts-religiöse Koalition eine Änderung des israelischen Grundgesetzes. Es gab keine Gegenstimmen in der Knesset, dem israelischen Parlament. Die Opposition hatte aus Protest den Plenarsaal in Jerusalem verlassen.

Die Gesetzesänderung gilt als erster Schritt für die umstrittene Justizreform, die die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu umsetzen will. Nach der Abstimmung reichten mehrere zivilgesellschaftliche Gruppen, Bürgerinitiativen und Oppositionsparteien Petitionen beim Obersten Gericht in Jerusalem ein, um die Änderung anzufechten und annullieren zu lassen. Israels höchste Richter, die ja selbst durch die Justizreform entmachtet werden sollen, werden diese Eingaben am Dienstag prüfen.

Warum ist diese Anhörung wichtig?

Die Anhörung, die live übertragen wird, wurde von israelischen Medien bereits als "noch nie dagewesen" beschrieben, da zum ersten Mal alle 15 Richter des Obersten Gerichtshofes zusammenkommen. Normalerweise besteht ein Spruchkörper aus meist drei bis zu neun Richtern. Die Anwesenheit aller Obersten Richter zeigt, wie wichtig diese Anhörung ist.

Der Oberste Gerichtshof muss im Grunde darüber entscheiden, ob es zulässig ist, die eigenen Befugnisse einzuschränken. Bisher haben die Richter darauf verzichtet, Grundgesetze aufzuheben, da sie einen verfassungsrechtlichen Status haben.

Obwohl Israels Unabhängigkeitserklärung von 1948 eine Verfassung vorsah, wurde diese nie umgesetzt. Stattdessen wurde 1958 das erste Grundgesetz verabschiedet. Heute gibt es dreizehn Grundgesetze, die als Quasi-Verfassung dienen. Sie legen unter anderem die grundlegenden Aspekte des demokratischen Systems, der Regierungsführung und der Bürgerrechte des Staates fest.

Amir Fuchs, Forscher und Rechtsexperte am Israel Democracy Institute, spricht von einem live übertragenen "Drama": "Wir können dabei hören, was die Richter sagen, wenn sie die Antragsteller der Petitionen befragen, vielleicht bekommen wir dabei einen Hinweis darauf, wie sie denken", sagt Fuchs der DW.

Was besagt die Gesetzesänderung?

Durch die Novelle des Grundgesetzes über die Justiz wird die sogenannte "Angemessenheitsklausel" aufgehoben. Es entzieht dem Obersten Gerichtshof und anderen Gerichten die Möglichkeit, über Entscheidungen von gewählten Regierungsvertretern zu beraten oder zu urteilen, sollten solche Kabinettsbeschlüsse unter Verdacht stehen, "unangemessen" zu sein. Das betrifft zum Beispiel politische Ernennungen oder Entlassungen, beispielweise bei Ministerposten oder Beamtenpositionen, aber auch andere Bereiche.

Was sagen die Gegner, was die Befürworter der umstrittenen Justizreform?

Gegner argumentieren, dass damit die Justiz in ihrer Fähigkeit extrem eingeschränkt wird, Regierungsentscheidungen zu prüfen - zum Beispiel bei willkürlichen Entlassungen von hochrangigen Beamten.

Israels Oberster Gerichtshof in Jerusalem: Gewaltenteilung beeinträchtigt? Bild: Rafael Ben-Ari/Chameleons Eye/Newscom/picture alliance

Befürworter der Reform sagen, dass dies die Justiz davon abhält, sich in Entscheidungen von gewählten Regierungsvertretern einzumischen. Sie machen geltend, dass das Gericht kein Recht hat, auf die Gesetzgebung einzuwirken.

In den eingereichten Petitionen, deren Ziel eine Annullierung der Gesetzesänderung ist, wird unter anderem argumentiert, dass die Justizreform Israels Charakter als parlamentarische Demokratie grundlegend verändern werde. Außerdem würde das Gesetz die Gewaltenteilung stark beeinträchtigen und Kontrollmechanismen aushebeln. Zudem soll es Fehler im Gesetzgebungsprozess bei der Justizreform gegeben haben, weshalb diese ungültig sei.

Ist es einfach, eine Änderung eines Grundgesetzes für nichtig zu erklären?

Bislang haben die Obersten Richter noch nie Änderungen an Grundgesetzen für nichtig erklärt. Der Ausgang des aktuellen Verfahrens ist also ungewiss und Experten sind sich uneinig darüber, wie die Richter entscheiden werden. Diese entscheiden nach dem Mehrheitsprinzip, deswegen auch die ungerade Zahl an Richtern. Sowohl die Mehrheitsmeinung als auch die Meinung der Minderheit wird veröffentlicht.

Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Präsidentin des Gerichts, Esther Hajut. In ihrer bisherigen Amtszeit habe es Hajut vermieden, Grundgesetzänderungen zu annullieren, dabei habe sie mit vielen Einsprüchen zu tun gehabt, sagt Tal Schneider, Politikkorrespondentin bei der Online-Zeitung "Times of Israel". Hajut habe diese "entweder abgelehnt oder grundlegende Lösungen angeboten, beispielsweise die Verschiebung des Zeitpunkts, wenn ein Gesetz in Kraft tritt oder andere Kompromisse“, so Schneider.

Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, die die Regierung unter anderem in legalen Fragen berät, schrieb in ihrer Antwort auf die Petitionen, dass das Gericht die Gesetzesänderung annullieren sollte. Sie argumentiert, dass es Israels Richtern weiterhin erlaubt sein müsse, die Rechtsnorm der "Angemessenheit" anwenden zu können, um Regierungsentscheidungen zu überprüfen. Dies sei wesentlicher Bestandteil der israelischen Demokratie. 

Parlamentspräsident Amir Ohana von der konservativen Likudpartei hatte in einer Rede angedeutet, dass die Regierung von Premier Netanjahu ein Urteil des Obersten Gerichtshofs, das die Justizreform annulliert, möglicherweise nicht akzeptieren könnte. 

Wie schnell wird eine Entscheidung erwartet?

Dass schon am Dienstag ein Urteil gefällt wird, scheint unwahrscheinlich. Israelische Medien spekulieren, dass es ein Urteil nach den hohen jüdischen Feiertagen, die Mitte September beginnen, geben könnte oder aber bevor Hajut als Präsidentin des Obersten Gerichts Mitte Oktober in den Ruhestand geht.

Noch ist unklar, wie sich Israel Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zur möglichen Gerichtsentscheidung verhalten wird Bild: Abir Sultan/EPA POOL/AP/dpa/picture alliance

"Es besteht kaum eine Chance, dass sie an dem Tag der Anhörung ein Urteil fällen. Es ist nicht einmal sicher, ob sie alle Petitionen schaffen. Es wird einige Zeit dauern“, so die Einschätzung von Rechtsexperte Fuchs. "Es wird das wichtigste Urteil sein, das jemals gefällt wurde."

Beobachter sagen, das es zu einer politischen Krise kommen könnte, wenn das Gericht die Gesetzesänderung aufhebt und die Regierung die Entscheidung nicht respektiert. "Es hängt sehr viel davon ab, was die Regierung sagen wird. Wenn sie sagt, 'das ist nichtig und wir machen, was wir wollen', dann bekommen wir eine Verfassungskrise", sagt Fuchs. "Aber, da sind wir noch nicht."


 

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