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Politik

Israels zweiter Lockdown spaltet die Nation

Tania Krämer Jerusalem/mir
18. September 2020

Angesichts deutlich gestiegener Corona-Zahlen hat in Israel ein zweiter landesweiter Lockdown begonnen. Die Entscheidung über die drastischen Beschränkungen stößt auf viel Widerwillen in der Bevölkerung.

Coronavirus | Israel Jerusalem | zweiter Lockdown
Bild: Ronen Zvulun/Reuters

Für manche Israelis wirkt es wie ein Déjà-vu. Schon während des Pessach-Fests im April befand sich das Land im Lockdown. Große Feiern fielen aus. Nun hat die israelische Regierung zum zweiten Mal eine landesweite Ausgangssperre verhängt - nur wenige Stunden vor Beginn des jüdischen Neujahrsfests.

"Ich muss meine 90 Jahre alte Mutter allein lassen. Wir werden nicht zu ihr gehen können für die Neujahrsfeier. Ihre Pflegerin wird bei ihr sein und wir bleiben zuhause", sagt Yael Turgeman. Rosh Hashana - das jüdische Neujahr - ist ein Fest, an dem sonst Familie und Freunde zusammenkommen. "Es ist enttäuschend. Es ist alles genau wie beim ersten Mal und alles ist ungewiss. Schwer zu glauben, dass dies am Ende helfen soll."

Yael Turgeman ist nicht überzeugt, dass ein zweiter Lockdown hilft, die Corona-Krise zu überwindenBild: Tania Kraemer/DW

Die Entscheidung, erneut eine landesweite Ausgangssperre auszurufen, spaltet die Nation. Nach den neuen Regeln dürfen sich Israelis nur noch maximal 1000 Meter von ihrem Wohnsitz entfernen. Eine lange Liste von Beschränkungen und Ausnahmen wurde am Donnerstag veröffentlicht.

"Die Situation ist absurd. Es gibt keinerlei Vertrauen in diese Entscheidung für den neuen Lockdown", sagt Anat Dreamer. Sie ist auf dem Mahane-Yehuda-Markt unterwegs, um noch letzte Einkäufe zu erledigen. "Viele Leute macht das wütend und gleichzeitig ist jeder total durcheinander. Es wurde nicht gut vorbereitet. Es gab schon beim letzten Mal keine wirkliche Exit-Strategie. Und jetzt beginnt ein neuer Horror-Zyklus." 

Wirtschaft hat sich nicht vom ersten Lockdown erholt

Anat Dreamer ist Schauspielerin und hat seit Beginn der Pandemie keine Arbeit mehr gefunden. "Ich weiß nicht, wann wir wieder richtig arbeiten werden und ob sich jemand um uns kümmert. Ich habe das Gefühl, viele Dinge werden nur aufgrund von politischem und religiösem Druck getan." Israels Wirtschaft hat sich noch immer nicht von der ersten längeren Ausgangssperre im März und April erholt. Damals wurde Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für seinen Umgang mit der Krise und der Eindämmung der Pandemie von allen Seiten gelobt.

Anat Dreamer nennt die Situation im Land "absurd"Bild: Tania Kraemer/DW

Doch seitdem wird die Kritik an der Regierung immer lauter: Seit Monaten demonstrieren Israelis jede Woche vor der Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem. Dabei geht es um seinen Korruptionsprozess, aber auch um das Handeln der Regierung in der Corona-Krise. Der Kampf gegen das Coronavirus sehe nach einem entmutigendem Misserfolg aus, schreibt Ha'aretz-Journalist Amos Harel. "Es ist eine tödliche Kombination aus schlechtem Management, Chaos, Arroganz, einer fehlenden Vorbildrolle der Führungsriege und unzureichender Kooperation der Bürger." 

Krankenhaus-Mitarbeiter kommen an ihre Grenzen

Israel gilt nun als eines der Länder mit der höchsten Infektionsrate. Doch während die Fallzahlen in den letzten Wochen weiter in die Höhe schossen, konnten sich Politiker, Gesundheitsbeamte und ultraorthodoxe Entscheidungsträger nur auf regional begrenzte nächtliche Ausgangssperren in Städten und Stadtvierteln einigen.

Der Zickzackkurs der Regierung und das Nachgeben gegenüber verschiedenen Interessengruppen versetzte viele Bürger in Aufregung. Präsident Reuven Rivlin räumte ein, dass die israelische Führung die Bürger enttäuscht habe. "Ich verstehe die Gefühle von Verwirrung, Unsicherheit und Angst, die viele Menschen empfinden. Ich verstehe es und möchte mich zuallererst dafür entschuldigen", sagte Rivlin.

Insgesamt haben sich in Israel bis zu diesem Freitag rund 179.000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, 1169 starben im Zusammenhang mit der Krankheit. Die Zahlen klingen zwar im internationalen Vergleich niedrig - doch Israel hat auch nur knapp neun Millionen Einwohner. Zuletzt gab es allein am Dienstag rund 6000 Neuinfektionen. Das ist die höchste Zahl seit Beginn der Pandemie. Mindestens zwei Krankenhäuser schickten Patienten in andere medizinische Zentren, um eine Überfüllung zu vermeiden.

In der Notaufnahme des Shamir Medical Center herrscht rund um die Uhr BetriebBild: Tania Kraemer/DW

Das Shamir Medical Center liegt in der Nähe von Tel Aviv und ist eines der größten Krankenhäuser des Landes. Dort arbeiten Ärzte und Krankenschwestern seit Beginn der Krise ununterbrochen. "Die Situation ist ernst. Im Moment sehen wir jeden Tag mehr und mehr Patienten. Unsere Corona-Abteilung ist voll. Wir haben vielleicht Platz für einen weiteren Patienten, danach müssen wir eine weitere Abteilung eröffnen und dafür brauchen wir mehr Fachpersonal", sagt Notarzt Gal Pachys.

Mediziner lernen jeden Tag dazu

In der geschäftigen Notaufnahme hält das medizinische Personal ein strenges Protokoll ein, um mögliche Coronapatienten zu identifizieren und zu isolieren. Israelische Soldaten gehen ein und aus, um Testproben ins Labor zu bringen. Ein kleiner Bereich auf der Station ist abgesperrt. Dort werden die Patienten per Video überwacht, bis die Ergebnisse des Corona-Tests vorliegen. Mehrmals täglich muss der Notarzt Gal Pachys zur Behandlung der Patienten seine volle Schutzkleidung anziehen. Das Team hat sich mit Terroranschlägen und Kriegssituationen auseinandergesetzt. "Corona ist etwas Unbekanntes, und wir lernen Tag für Tag, wie wir die Patienten besser behandeln können", sagt er.

Jeden Tag streift sich Notarzt Gal Pachys Einweghandschuhe, Maske und Schutzkleidung überBild: Tania Kraemer/DW

Derzeit wird neben der Notaufnahme ein neuer Anbau gebaut, um mehr Platz für ankommende Patienten mit Verdacht auf COVID-19 zu schaffen. "Die Menschen verstehen immer noch nicht den Schweregrad der Krankheit", sagt der Notarzt Pachys. "Einige Leute glauben, dass sie sicher sind, dass das Virus nicht so gefährlich ist. Aber in Wirklichkeit ist es gefährlich." Der Lockdown wird voraussichtlich drei Wochen dauern und kann - abhängig vom Infektionsgeschehen - verlängert werden.

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