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Politik

Ist ein Denkmal für Polens NS-Opfer zu wenig?

9. September 2019

Es ist eine schwierige Diskussion: Wie gedenkt man der Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Zweiten Weltkrieg? Ein Interview mit Osteuropahistoriker Martin Aust.

Martin Aust (Professor für Ost- und Mitteleuropäische Geschichte)
Bild: Brigitte Friedrich

Anlässlich des 80. Jahrestages des Angriffs Deutschlands auf Polen und den Beginn des Zweiten Weltkrieges hat die Idee eines Denkmals für die Opfer der NS-Besatzung in Polen größere Unterstützung erfahren: Im Deutschen Bundestag befürworten inzwischen rund 240 Abgeordnete aus allen Parteien mit Ausnahme der AfD ein Denkmal, welches den Opfern des deutschen Besatzungs- und Vernichtungsregimes in Polen zwischen 1939 und 1945 gewidmet sein soll.

Doch es stellen sich weitere Fragen: Ist ein Denkmal allein ausreichend, um dem Anspruch einer aufgeklärten Erinnerungskultur gerecht zu werden? Und ist ein Denkmal für die Opfer in Polen nicht zu wenig, wenn man an die anderen Opfer der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik im Osten Europas denkt? Ein Gespräch mit Martin Aust, Osteuropahistoriker an der Universität Bonn, der sich in den letzten Jahren intensiv in die deutsche Diskussion eingebracht hat.

DW: Der 1. September stand in Polen und Deutschland im Zeichen des Gedenkens an den achtzigsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. Der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin haben an den Gedenkfeierlichkeiten in Warschau teilgenommen. Sie selbst haben im Schleswig-Holsteinischen Landtag im Beisein des polnischen Botschafters eine Gedenkrede gehalten. Wie fällt Ihre Bilanz der Gedenkfeierlichkeiten aus?

Martin Aust: Auch achtzig Jahre nach dem Überfall auf Polen ist es höchst angebracht, die Erinnerung in Deutschland wach zu halten. In der deutschen Gesellschaft sind die deutschen Verbrechen in Polen nicht ausreichend bekannt. Darauf hat die polnische Seite zuletzt auch immer wieder hingewiesen. Insofern haben die Gedenkfeierlichkeiten den polnischen Opfern und ihrem Leid die verdiente Aufmerksamkeit in der deutschen Öffentlichkeit gebracht. Der Bundespräsident hat in Warschau treffende Worte der Anteilnahme gefunden. Ich bin froh, dass ich mit meiner Gedenkrede im Schleswig-Holsteinischen Landtag auch einen Beitrag dazu leisten konnte. Ich habe auf die unverhoffte Wendung aufmerksam gemacht, dass die Polen 1989 - fünfzig Jahre nach dem deutschen Überfall und den deutschen Kriegsverbrechen - wesentliche Voraussetzungen für das Ende des Kommunismus in Europa, die deutsche Einheit und das Zusammenwachsen Europas geschaffen haben.

Angesichts Ihrer positiven Bilanz dieser Gedenkveranstaltungen könnte man meinen, dass alles gut wäre in den deutsch-polnischen Beziehungen und der gemeinsamen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Ist das so?

Seit 1989 haben sich die deutsch-polnischen Beziehungen insgesamt tatsächlich sehr gut entwickelt. Trotzdem gibt es momentan eine Reihe von umstrittenen Punkten im Verhältnis der beiden Länder. Dazu gehört die europäische Flüchtlingspolitik, die Energiepolitik, die Frage nach Rechtsstaatlichkeit in Polen und das deutsche Verhältnis zu Russland. Eine besondere Rolle spielt auch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung geht darauf ein, indem er die Erinnerung an Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Dialog mit Partnern im östlichen Europa stärken will.

In diesem Zusammenhang ist die schon seit Jahren diskutierte Idee eines Berliner Denkmals für die ermordeten Polen zu sehen, die nun anlässlich des 80. Jahrestages einen weiteren starken Befürworter erhalten hat. Denn auch Bundestagspräsident Schäuble hat sich nun für das Projekt ausgesprochen. So sollen mittlerweile 240 Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu den Befürwortern des Denkmals für die ermordeten Polen zählen. Auch Sie selbst gehörten zu den Unterzeichnern eines Aufrufes, der dieses Denkmal befürwortet hat. Erwarten Sie nun eine baldige Realisierung dieses Projektes?

Ich hoffe sehr, dass es im Bundestag noch zu einer ausführlichen Debatte über dieses Projekt kommt. Im Grundsatz ist es vollkommen richtig, dem Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im östlichen Europa ein sichtbares Zeichen zu geben. Wie ich an anderer Stelle bereits ausführlich dargestellt habe, sollte es jedoch nicht auf die polnischen Opfer beschränkt sein. Der deutsche Vernichtungskrieg im östlichen Europa begann 1939 in Polen und radikalisierte sich ab 1941 im Baltikum und der Sowjetunion mit Rückwirkungen auf die Verbrechen in Polen. Die sowjetischen Opfer des deutschen Vernichtungskrieges sollten dabei nicht aus dem Blick der deutschen Erinnerungskultur geraten - seien es die Opfer der Blockade Leningrads, der ca. eine Millionen Menschen zum Opfer fielen; seien es die Zivilisten, die in Belarus in den rund 7000 Dörfern starben, die die Wehrmacht und SS im Rahmen der sogenannten Bekämpfung von Partisanen auslöschten; seien es die zahlreichen Ukrainerinnen und Ukrainer, die zur Zwangsarbeit ins Reich deportiert wurden; seien es die rund 3 Millionen Rotarmisten, die die Wehrmacht gezielt dem Tod durch Kälte und Hunger aussetzte, um nur einige sowjetische Opfergruppen zu nennen.

Sie sprechen damit einen Kernpunkt der aktuellen deutschen Diskussion an, die sicherlich vom Wissen der eigenen Schuld in Osteuropa getragen ist. Dagegen stellen sich in Polen, Belarus, der Ukraine, den baltischen Staaten und Russland die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg unterschiedlich dar und sind zwischen diesen Ländern auch von Konflikten geprägt. Kann es unter diesen Umständen in Deutschland ein Gedenken "im Dialog mit unseren osteuropäischen Partnern" geben, wie es im Vertrag der Großen Koalition heißt?

Die Erinnerungskonflikte in und zwischen diesen Ländern sind natürlich nicht von der Hand zu weisen. Über dem in der Tat wichtigen Wunsch, mit Partnern im Dialog zu erinnern, sollten wir jedoch zwei Dinge nicht übersehen: Eine nach Nationen getrennte Erinnerung an die Opfer würde angesichts der Mehrfachidentitäten unter den Opfern des deutschen Vernichtungskrieges zu einem schwer entwirrbaren Knäuel von individuell-nationalen Gedenkprojekten führen. Das könnte auf viele Einzeldenkmäler für jede national begriffene Opfergruppe hinauslaufen. Deswegen plädiere ich für ein inklusives Gedenken an alle Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im östlichen Europa und nicht allein für die Polen.

Zudem kann die deutsche Erinnerungskultur sich nicht allein auf die Empathie mit den Opfern beschränken - so grundlegend wichtig sie ist. Die deutsche Erinnerungskultur muss auch historisches Wissen über die Täter und ihre Taten beinhalten, um wichtige Lehren für unser freiheitlich-demokratisches Selbstverständnis zu ziehen. Wir werden unserer Erinnerungsverantwortung als Deutsche nicht gerecht, wenn wir unsere Erinnerung auf die Opfer allein fokussieren und die Ideologie, Motive und Handlungen der Täter vergessen. Nur mit dem Blick auf Opfer und Täter zugleich schaffen wir eine historisch informierte Erinnerungskultur, die sich nicht in Ritualen vor Denkmälern an Gedenktagen erschöpft.

Das wirft aber die Frage auf, ob allein ein Denkmal für die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges ausreicht, um der Verantwortung Deutschlands gegenüber den heutigen osteuropäischen Nachbarn gerecht zu werden?

Nein. Ein Denkmal erfüllt die Funktion des Gedenkens. Nötig ist jedoch eine Stelle, die auch die Geschichte des deutschen Vernichtungskriegs dokumentiert und internationalen Austausch ermöglicht. Das kann nur ein Dokumentationszentrum leisten, das auch Räume für das Gedenken sowie auch den Dialog mit den Partnern aus dem östlichen Europa bietet. Wir brauchen einen Ort, der die Funktionen des Gedenkens, der Information und des Austausches erfüllt.

Martin Aust ist ein deutscher Historiker und Hochschullehrer. Er ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn.

Das Interview führte Ingo Mannteufel.

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