Ist Bundesliga-Profi Lutz Eigendorf ein Mord-Opfer der DDR?
8. November 2024Um 22 Uhr scheint die Welt für Lutz Eigendorf noch in Ordnung, jedenfalls halbwegs. Gemeinsam mit seinem Fluglehrer Manfred Müller trinkt er noch ein letztes Bier in der Kneipe "Cockpit" in der norddeutschen Stadt Braunschweig. Vielleicht spült er damit auch den Frust über die 0:2-Pleite seiner Braunschweiger Eintracht im Bundesliga-Spiel gegen den VfL Bochum herunter, bei der er nur auf der Bank saß. Danach aber ändert sich alles im Leben des Bundesliga-Profis und DDR-Flüchtlings Lutz Eigendorf.
Gegen 23 Uhr prallt sein Sportwagen mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum. Eigendorf hat zur Unfallzeit 2,2 Promille Alkohol im Blut und erliegt zwei Tage später seinen Verletzungen. Ein tödlicher Unfall, der viele Fragen aufwirft - und der möglicherweise gar kein Unfall war.
Woher stammte der Alkohol in Eigendorfs Blut?
Eigendorf wurde 1956 in der DDR geboren, zeigte dort als Fußballer früh sein Talent als Defensivspieler und wurde mit 22 Jahren Nationalspieler. Im März 1979 nutzte er ein Freundschaftsspiel seines Klubs BFC Dynamo beim 1. FC Kaiserslautern in der Bundesrepublik zur Flucht und kehrte nicht mit seiner Mannschaft in die DDR zurück. Ein halbes Jahr später unterschrieb Eigendorf in Kaiserslautern einen Vertrag als Bundesliga-Profi. 1982 wechselte er zu Eintracht Braunschweig, wo er bis zu seinem Tod spielte.
Die genauen Umstände seines Unfalls am 5. März 1983 sind bis heute nicht geklärt. In den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, kurz Stasi, gibt es Hinweise darauf, dass der Fußballprofi, der nach seiner Republikflucht als Verräter und Staatsfeind galt, vergiftet werden sollte.
Und die 2,2 Promille im Blut wirken auf Basis der heutigen Erkenntnisse zumindest dubios: "Laut mehreren Augenzeugen hat er zwar ein, zwei Bier getrunken. Alle Zeugen sagen aber, dass Eigendorf nüchtern war, als er das Lokal verlassen hat", sagte Historiker Andreas Holy der DW in einem Interview 30 Jahre nach Eigendorfs Tod. Holy erforschte den Fall und glaubt eher an einen Mord als an einen Unfall.
Warum aber fand nach dem Alkoholtest am Unfallort keine vollständige Obduktion der Leiche statt? Warum wurde der Unfallwagen nicht richtig untersucht? "Die Staatsanwaltschaft hat sich nie richtig dafür interessiert, obwohl ich sie durch meine Akten-Funde erst aufmerksam gemacht habe", kritisierte Autor und Journalist Heribert Schwan gegenüber der DW. "Da ist leider sehr viel durch die Justiz verschlampt worden", sagte er.
Schwan hat den Fall Eigendorf für eine Dokumentation des deutschen Fernsehens aus dem Jahr 2000 recherchiert. "Tod dem Verräter" hieß sein Film. In den Stasi-Akten zu Eigendorf fand er eine verräterische Notiz: "Verblitzen, Eigendorf".
Jörg Berger: "Ich habe ihn immer gewarnt"
"Verblitzen" stand im Stasi-Jargon für das gezielte plötzliche Blenden eines Autofahrers - genau wie es kurz vor dem tödlichen Unfall Eigendorfs geschehen sein soll. Eigendorf wäre demnach von den Scheinwerfern geblendet worden und in der Folge gegen den Baum gerast.
War der Unfall des Bundesliga-Profis also ein gezieltes Attentat? Selbst der ehemalige Oberstaatsanwalt Braunschweigs, Hans-Jürgen Grasemann, gab Jahre nach dem Tod Eigendorfs zu: "Der Verdacht hat uns nie losgelassen, dass die Staatssicherheit doch ihre Hände im Spiel gehabt haben könnte."
Der 2010 verstorbene Bundesliga-Trainer Jörg Berger war sich sicher: "Das war kein Unfall, das war zu 95 Prozent Mord." Berger, der 1979 selbst über Jugoslawien aus der DDR floh und ebenfalls danach im westdeutschen Fußball Erfolg hatte, ahnte schon vor dem Unfall, dass so etwas passieren könnte.
"Lutz war ein Junge, der das Leben mitgenommen hat, der sehr unbedarft war. Ich habe ihn immer wieder gewarnt", erzählte Berger im Jahr 2000 im DW-Interview. "Ich selbst habe gemerkt, dass die Stasi immer in meiner Nähe war. Ich bin unter Druck gesetzt worden, und es gab Momente, in denen ich viel Angst hatte." Er habe sich daher bei öffentlichen Auftritten zurückgehalten, was die DDR betraf, so Berger.
"Und Lutz wollte sich zeigen, denen eins auswischen. Ich habe ihn gewarnt und ihm gesagt: Das lassen die sich nicht gefallen, und irgendwann kriegst du mal einen über die Rübe."
Eigendorf provoziert DDR-Machthaber
Eigendorf war aber nicht vorsichtig - im Gegenteil: Während er sein neues Leben im Kapitalismus mit italienischem Sportwagen genoss, gab er sogar Interviews direkt vor der Berliner Mauer - ein Affront gegenüber der empfindlichen DDR-Staatssicherheit. Auch zwischen den Zeilen übte er Kritik an der DDR. "Ich glaube, dass der Reiz in der Bundesliga zu spielen, wo das Niveau doch deutlich höher ist als in der DDR-Oberliga, doch sehr groß war und ich es einfach noch mal wissen wollte", sagte Eigendorf in einem Interview - wenige Tage vor seinem Tod.
Dabei war auch Eigendorf sich der Gefahr bewusst. "Er hat immer gedacht, dass die [Stasi, Anm. d. Red.] versuchen könnten, ihn zurückzuholen mit aller Macht. Er hatte Angst, er wird entführt", erinnerte sich seine zweite Ehefrau Josi Eigendorf in einem Fernseh-Interview. Dabei plante die Staatssicherheit vielleicht längst etwas anderes, um Eigendorf los zu werden. "Gifte, Gase" und "Narkosemittel" werden in einer Stasi-Notiz aufgeführt, darunter der Name "Eigendorf".
Berger: "Ich wusste, dass ich in Lebensgefahr war"
Republikflüchtling Jörg Berger ahnte, wozu die Spitzel der DDR auch in Westdeutschland fähig waren: "Ich wusste, dass ich in Lebensgefahr war. Man wusste alles über uns: Wo das Schlafzimmer war, wo das Auto stand, wohin man fährt, welche Bekannte man hat. Die Stasi war im Westen sehr gut organisiert und wusste eigentlich alles."
Es gab einige DDR-Sportler, die Auslandsreisen nutzten, um sich abzusetzen und in den Westen zu fliehen. Warum aber sollte die Stasi ausgerechnet auf Lutz Eigendorf Jagd gemacht haben?
Die Sporthistorikerin Jutta Braun glaubt die Gründe in Eigendorfs Laufbahn zu finden: "Das besondere am Fall Eigendorf ist, dass er Spieler beim BFC Dynamo war - das war bekanntermaßen der Lieblingsklub von Mielke [Stasichef Erich Mielke, Anm. d. Red.]. Der hat die Flucht Eigendorfs als persönlichen Verrat empfunden."
Trotz aller Hinweise wird wohl nie endgültig geklärt werden, was vor 41 Jahren zum Unfall und damit zum Tod von Lutz Eigendorf geführt hat. 2011 prüfte die Berliner Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme eines Mord-Verfahrens in dem Fall. Ergebnis der Prüfung war aber: "Keine objektiven Hinweise auf ein Fremdverschulden" - auch weil viele Stasi-Akten zu dem Fall in der Zwischenzeit verschwunden waren.
Dieser Text wurde erstmals am 5. März 2013 veröffentlicht.