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Politik

Ist der Föderalismus Äthiopiens Weg zur Einheit?

Silja Fröhlich
27. November 2019

Einheit versus Spaltung: Auf dem Weg zur geeinten Nation probiert Äthiopien unterschiedliche Strategien. Doch untergräbt eine Einheitspartei ethnische Differenzen? Und spaltet der Föderalismus das Land nicht noch weiter?

Äthiopien Sidama Referendum
Bild: Getty Images/AFP/M. Tewelde

109 Millionen Menschen leben in Äthiopien, 80 Ethnien in neun Bundesstaaten. Es ist eine Vielfalt an Kultur, Sprache und Religion. Seit Abiy Ahmed 2018 zum Premierminister aufstieg, galten seine Bemühungen dem Aufbau einer geeinten Nation. Gleich zweimal wurde in der vergangenen Woche mit Aussicht auf die anstehende Parlamentswahl 2020 getestet, ob dies in dem ethnisch-diversen Land tatsächlich möglich ist.

Die regierende Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Volksrepublik (EPRDF), eine Koalition vierer ethnischer Parteien, hatte angekündigt, zu einer gemeinsamen Partei zu fusionieren. Vergangenen Donnerstag stimmten drei der vier Parteien für einen Zusammenschluss - und nennen sich nun übersetzt die Wohlstands-Partei. In der selben Woche stimmte die Bevölkerung der Region Sidama bei einer Abstimmung dafür, zur eigenständigen Region und somit zum zehnten Bundesstaat des Landes zu werden. Laut der Wahlkommission wollten 98,5 Prozent der Wähler mehr Autonomie. Sidama war bisher Teil der Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker (SNNPR), also der viertgrößten Verwaltungszone des Landes.

Zwei gegensätzliche Strategien

Beide Entwicklungen wurden als Test für den multinationalen Föderalismus des Landes angesehen, das mit kommunalen Spannungen zu kämpfen hat. "Das Referendum in Sidama ist Ausdruck des Demokratisierungsweges, den Äthiopien eingeschlagen hat", erklärte Premierminister Abiy Ahmed. Doch dieser Demokratisierungsweg ist kontrovers, so Kjetil Tronvoll, Professor für Friedens- und Konfliktforschung am Bjørknes University College, Oslo.

Am Mittwoch stimmten die Sidama über die Autonomie abBild: AFP/M. Tewelde

"Zum einen befindet sich die EPRDF in einem Zusammenführungsprozess, was den Wunsch des Premiers repräsentiert, eine gemeinsame äthiopische Identität zu erschaffen. Dieses Bedürfnis haben schon viele ausgedrückt. Auf anderer Seite jedoch wollen unterschiedliche ethnische Gruppen eigene ethnische Staaten." Die Sidama, die mit vier Prozent fünftgrößte Ethnie Äthiopiens, waren nun die ersten, die das in einem Referendum zum Ausdruck bringen konnten.

Wann macht Autonomie Sinn?

Blogger und DW-Kolumnist Befekadu Hailu kritisiert die Durchführung des Referendums. "Ethnie bestimmt den politischen Diskurs in Äthiopien. Sidama hat ein Referendum durchgeführt, aber kennen die Menschen wirklich die Vor- und Nachteile, die damit einhergehen? Ich bezweifle es." Einen eigenen Staat zu haben sei nach Hailu nur bedingt eine Lösung. "Autonomie bringt den Menschen dann etwas, wenn sich dadurch sozial, politisch und wirtschaftlich etwas verändert."

Abiys Reformen seit seinem Amtsantritt haben Politiker ermutigt, sich für mehr Rechte für ihre ethnischen Gruppen einzusetzen. "In Regionen wie Amhara und vielen anderen dreht sich der politische Diskurs hauptsächlich um die föderalen Rechte", erklärt Tronvoll im DW-Interview. Dies widerspreche dem Kurs, den Ahmed für die Bildung einer gemeinsamen Nation eingeschlagen hätte. 

Wachsender Föderalismus?

"Etwa zehn andere Gruppen wollen sich von der (Verwaltungszone) SNNPR abspalten und haben bereits ein Referendum beantragt", bestätigt Hailu im DW-Interview. Sollte dies geschehen, könnte es zur vollständigen Zersplitterung der SNNPR und der Regionalregierung führen. So könnten etwa die Wolaita und Kaffa ähnliche Abstimmungen durchführen. Analysten befürchten, dass sie weitere ethnische Gewalt und Entrechtung entfesseln könnten.

Die Verfassung Äthiopiens gewährt ethnischen Gruppen das Recht, autonom zu werden, um eine weitreichende ethnische Selbstverwaltung zu gewährleisten. Mit der Autonomie kommt die Kontrolle in gewissen Politikbereichen wie lokale Steuern, Bildung, und Polizei. Doch ethnische Minderheiten in Sidama befürchten, dass die Abspaltung zu institutioneller Diskriminierung führt. "Trägt eine Region den Namen einer ethnischen Gruppe, scheint es, als habe nur diese Gruppe Zugang zu Rechten, Macht und Ressourcen", mahnt Hailu. Sidama-Aktivisten betonen jedoch, dass ein neuer Regionalstaat die seit langem bestehenden Missstände angehen und das Leben der Einheimischen verbessern soll.

Trennung vs. Einheit

Für den entgegengesetzten Trend, nämlich zur von Abiy verkörperten Vereinigung, steht die Fusion der Regierungskoalition EPRDF in eine gemeinsame, ethnisch-diverse Partei, die Ethiopia Prosperity Party (EPP). Dies gilt als eine der internen Reformbemühungen des Ministerpräsidenten zur Straffung der Entscheidungsstruktur der Koalition, die aus vier Hauptparteien besteht: Die Tigray People's Liberation Front (TPLF), die Demokratische Partei der Oromo, die Demokratische Partei Amhara und die Südäthiopische Demokratische Volksbewegung. Außerdem zählen fünf Satellitenparteien zur Koalition.

Die EPRDF wird in Zukunft in einer Partei zusammengefasst - der EPPBild: EPRDF

Nur die TPLF, die Partei des 2012 im Amt verstorbenen Premierministers Meles Zenawi, ist gegen die Fusionspläne. Abi dürfte beim Aufbau dieser Partei auf größere Widerstände treffen, so Tronvoll. "Die Front hat unter der breiten Bevölkerung nur geringe Unterstützung, daher stellt sich die Frage: Schafft die neue Partei es, sich als fundamental neu mit einer neuen Ideologie zu positionieren, und wenn ja, ist diese Ideologie in der Bevölkerung populär? Oder bekommt die EPRDF nur eine neue Verpackung?"

Äthiopien nach panafrikanischem Vorbild

Laut Tronvoll spiegelt die Partei Abiys Wunsch wieder, ethnische Gruppen nach panafrikanischem Vorbild zusammen zu bringen. "Obwohl Ethnie, Kultur und Religion uns trennen, stehen wir gemeinsam als eine Einheit zusammen", sei die Devise. Doch kann eine ethnisch diverse Partei den Befindlichkeiten der unterschiedlichen Regionen gerecht werden? Kolumnist Befekadu Hailu hält das für möglich: "Eine Einheitspartei und die Erhaltung der Vielfalt kollidieren nicht miteinander. Der Premierminister versucht, die ethnische Gruppenkoalition zu fusionieren, aber das bedeutet nicht, dass er die ethnischen Gruppen oder den ethnischen Föderalismus fusioniert." So würde eine Fusion die Vielfalt innerhalb der Partei noch weiter unterstützen.

Eine Trennung und ein Zusammenschluss – beides ist nach Hailu ein Hinweis auf die Zukunft. "Das Referendum ist ein Test dafür, wie die nationalen Wahlen in Zukunft ablaufen werden, und wir werden sehen, ob sich die neue EPP gegen andere Parteien beweisen kann." Wie sich eine neue, nach ethnischen Schwerpunkten abgesteckte Region und eine große, multiethnische Partei auf das Zusammenleben in Äthiopien auswirken werden, so sagen beide Experten, müsse man nun abwarten.

Diesen Beitrag haben wir am 27.11.2019 aktualisiert. 

Silja Fröhlich Redakteurin, Reporterin und Moderatorin
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