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Ist eine Herdenimmunität noch möglich?

1. Oktober 2021

Skandinavische Länder lockern ihre Corona-Beschränkungen wegen relativ hoher Impfquoten. Eine Herdenimmunität könne auch Ungeimpfte schützen. Aber ist es noch realistisch, sie zu erreichen? Ein Blick auf die Fakten.

Menschen mit und ohne Maske gehen auf einer Straße
Viele Menschen weltweit sehnen sich nach Normalität. Kann sie durch eine Herdenimmunität wiederkehren?Bild: Sven Hoppe/dpa/picture alliance

Wenn nur genügend Menschen gegen COVID-19 geimpft oder genesen sind, dann ist die Pandemie beendet. Das ist die Wunschvorstellung seit Beginn der Corona-Pandemie. Menschen, die sich beispielsweise wegen chronischer Erkrankungen nicht impfen lassen können oder auch Kinder unter 12 Jahren wären dann geschützt, wenn ihnen immunisierte Menschen in ihrem Umfeld Schutz bieten. Doch ist eine Herdenimmunität gegen COVID-19 überhaupt noch realistisch?

Herdenimmunität bei anderen Krankheiten schon erreicht

Ein Beispiel für Herdenimmunität oder auch Gemeinschaftsschutz in Europa ist Polio, auch Kinderlähmung genannt. Seit 2002 gilt Europa laut WHO sogar als "frei von Polio". Damit die Herdenimmunität bei der Kinderlähmung erreicht wurde, mussten etwa 80 Prozent geimpft werden. Trotzdem ist es laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auch heute noch wichtig, dass weiterhin gegen Kinderlähmung geimpft wird. In Teilen Asiens und Afrikas kommt die Krankheit noch vor. Würde sie also "durch Reisende nach Deutschland gelangen und auf eine weitgehend ungeimpfte Bevölkerung treffen, wäre eine erneute Ausbreitung möglich".

Durch Impfungen wurde zumindest in Europa und den USA eine Herdenimmunität gegen Polio erreichtBild: Sudipta Das/Pacific Press/picture alliance

Eine Herdenimmunität heißt nicht unbedingt, dass eine Krankheit ausgerottet ist. "Das bedeutet nicht, dass sich dann keiner mehr anstecken kann, aber das bedeutet, dass die Infektion deutlich zurückgegangen ist und wir uns auf einem sehr moderaten Niveau der Ansteckungen bewegen", erklärt Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes im DW-Interview.

Gemeinschaftsschutz gegen Corona ist regional noch möglich

Über kurz oder lang werde in Deutschland ein Gemeinschaftsschutz gegen Corona eintreten, sagen Expertinnen und Experten. Dafür müssten etwa 85 Prozent der Bevölkerung in Deutschland geimpft oder genesen sein, sagt Christine Falk, Präsidentin des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, im DW-Interview.

Das Robert Koch-Institut (RKI) schrieb schon in einem Bericht von Juli 2021, dass mindestens 85 Prozent der Menschen zwischen zwölf und 59 Jahren und 90 Prozent der über 60-Jährigen vollständig gegen COVID-19 geimpft sein müssen, um die Corona-Lage in Deutschland kontrollieren zu können. 

Herdenimmunität durch Impfung erstrebenswerter

"Wir werden über den Herbst und Winter eine hohe Zahl von geschützten Personen erreichen und dann erreichen wir die Herdenimmunität irgendwann", sagt Falk. Die Frage lautet nur, wie hoch der Preis für die Immunisierung der Bevölkerung ist.

Geschützt sind auch die Menschen, die eine Corona-Erkrankung überstanden haben. Menschen, die sich nicht impfen lassen würden, könnten aber einen schweren Verlauf der COVID-19-Erkrankung erleben. Egal, welchen Alters. Auch Long-COVID, also Symptome und Gesundheitsstörungen wochen- oder monatelang nach einer Infektion, dürften nicht unterschätzt werden, erklärt Wissenschaftler Lehr. Eine Herdenimmunität durch Impfung wäre also durchaus erstrebenswerter, sagt auch die Immunologin Falk.

Ob eine Impfquote von 70 Prozent schon ausreichen könnte, um auch die Ungeimpften zu schützen, wird man laut Falk auch an dem Fallbeispiel Dänemark sehen. Die Coronaregeln wurden in dem Nachbarland Deutschlands größtenteils aufgehoben. In Dänemark sind rund 75 Prozent der Menschen (Stand 27. September) geimpft. Deutlich mehr als in Deutschland mit aktuell nur 64,4 Prozent vollständig Geimpften (Stand 30. September).

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Globaler Kontext wichtig

In anderen Teilen der Welt ist die Impfquote noch sehr gering. 2,3 Prozent der Bevölkerung in Ländern mit niedrigem Einkommen haben überhaupt nur mindestens eine Impfdosis erhalten (Stand 29. September). In der Demokratischen Republik Kongo sind beispielsweise nur 0,04 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen COVID-19 geimpft (Stand 24. September). Durch ein großes Infektionsgeschehen, also viele Neuansteckungen, könnten in Ländern mit geringer Impfquote schneller neue Mutationen entstehen.

Wenn man es global sehe, seien wir weit davon entfernt, eine Impfquote zu erreichen, so dass sich das Virus praktisch nirgends mehr verbreite, sagt Dirk Brockmann, Komplexitätsforscher der Berliner Humboldt-Universität und Pandemie-Modellierer, im DW-Interview. Neue Mutationen aus anderen Ländern könnten also auch eine möglicherweise irgendwann in Deutschland erreichte Herdenimmunität gefährden, sagt auch Thorsten Lehr. "In Kolumbien gibt es aktuell eine neue Variante, die sich ausbreitet, in Südafrika auch", erklärt er.

Wenn Varianten entstehen, gegen die die Impfstoffe nicht mehr wirken, dann müssten wieder neue Impfstoffe entwickelt oder abgewandelt werden. "Insofern ist das Konzept der Herdenimmunität für uns als Menschheit global gesehen nicht zu erreichen", erklärt Brockmann.

Impfstoffe schützen auch vor Delta-Variante

Bisher schützen die in der Europäischen Union zugelassenen Impfstoffe aber gegen alle Varianten, auch die aktuell vorherrschende Delta-Variante. "Ich erwarte nicht, dass es eine Mutation gibt, die unserer Impfung komplett entkommt. Das wäre extrem unwahrscheinlich", sagt Immunologin Falk. Das Virus könne zwar weiterhin mutieren, ein gewisser Schutz sei aber zumindest gegen alle aktuellen Varianten vorhanden. 

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Die zugelassenen Impfstoffe schützen nach wie vor weitgehend vor schweren Krankheitsverläufen. Laut RKI liegen auf Intensivstationen deutlich mehr Ungeimpfte mit einer Corona-Infektion als Menschen mit einem vollständigen Impfschutz. 

"Durch eine Impfung sinkt die Wahrscheinlichkeit extrem, sich zu infizieren. Und damit schützen sie natürlich auch diejenigen um sich herum, die sich nicht impfen lassen können", fügt der Pharmazeut Lehr hinzu. Auch die Immunologin Falk sagt: "Der Impfschutz ist extrem gut und wenn man zweimal geimpft wurde, hat man auch noch über diesen Herbst und Winter im Normalfall einen sehr guten Impfschutz."

Menschen mit Vorerkrankungen zum Beispiel, oder die Medikamente nehmen, die das Immunsystem unterdrücken, oder ältere Menschen seien vulnerabler und sollten sich gegebenenfalls mit einer dritten Dosis impfen lassen, fügt Falk noch hinzu. Das bestätigen auch erste Studien von BioNTech-Pfizer. Das Resultat: Eine dritte Dosis sieben bis neun Monate nach der zweiten Dosis könnte den Impfschutz sowohl verlängern als auch verstärken.

Mitarbeit: Frank Hofmann

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